1. Dezember 1860: Geburtstag des Romans ‚Große Erwartungen‘


An diesem Datum erschien die erste Folge des vorletzten (und 13.) abgeschlossenen Romans von Charles Dickens in seiner eigenen Wochenzeitschrift All the Year Round. Außerdem brachte das New Yorker Magazin Harper’s Weekly, denen der geschäftstüchtige Dickens die Publikationsrechte verkauft hatte, gleichzeitig vom November 1860 bis August 1861 die düstere Geschichte des Philip Pirrip, der Pip genannt wird.

Der junge Pip, ein Waisenkind, erzählt seine Geschichte selbst. Er wächst Anfang des 19. Jahrhunderts in der Grafschaft Kent auf (Dickens Heimat). Pip lebt bei seiner cholerischen großen Schwester, die offenbar ungern Mutterstelle an ihm vertritt und ständig über diese Verpflichtung zetert. Sie ist mit dem Dorfschmied Joe verheiratet – weshalb sie, auch von Pip, nur ‚Mrs.Joe‘ genannt wird. Joe ist riesig und stark, aber weichherzig und gutmütig. Er lebt, wie Pip, unter der Fuchtel seiner Frau, die er trotz ihrer Tyrannei verehrt. Was Mrs. Joe nicht davon abhält, ihren Gatten ebenso wie ihren kleinen Bruder immer mal wieder zu züchtigen.

Als Pip ungefähr sieben ist, kurz vor Weihnachten, begegnet ihm auf dem Friedhof ein entsprungener Sträfling, der ihn bedroht und einschüchtert: Der Kleine soll dem Mann eine Feile bringen, um seine Fußfesseln zu lösen, sowie Lebensmittel. Obwohl Pip seine Schwester fürchtet, macht dieser Mensch ihm noch mehr Angst; so klaut er eine Pastete, die für’s Weihnachtfest gedacht war, aus der Vorratskammer und bringt sie samt Feile am nächsten Tag zum Sträfling. Der wird allerdings bald wieder geschnappt und so scheint dies eine zwar schreckliche, aber eher unwichtige Episode in Pips Leben gewesen zu sein.

Einige Zeit darauf wird er von einem Verwandten zu einer exzentrischen Frau gebracht, einer  reichen Erbin, Miss Havisham, die in der Nähe wohnt. Er soll dort ’spielen‘. Miss Havisham trägt grundsätzlich ein Brautkleid samt Schleier und hockt bei verdunkelten Fenstern in einem festlich geschmückten Zimmer, in dem für ein Hochzeitsessen gedeckt worden ist – vor vielen Jahren. Inzwischen haben die Mäuse die Hochzeitstorte ausgehöhlt und die Spinnen ihre Netze über Kerzenhalter, Teller und Besteck gesponnen. Eine Uhr ist angehalten worden und zeigt in ewigem Vorwurf die Zeit, in der Miss Havisham am Hochzeitstag von ihrem Bräutigam im Stich gelassen wurde.

Sie zelebriert, da sie sich’s leisten kann, ihr gebrochenes Herz von morgens bis abends und dressiert ihre Pflegetochter Estella darauf, an ihrer Stelle Rache zu nehmen und Männerherzen zu knacken. Vermutlich ist Pip zu diesem Zwecke, als Übungsobjekt, ins Haus bestellt worden und er tut Miss Havisham sofort den Gefallen und verliebt sich hoffnungslos in das bildhübsche kleine Mädchen, das ihn sehr von oben herab behandelt und eigentlich nie nett zu ihm ist.

Psychologisch nicht weiter erstaunlich. Da Pip, sobald er bei Bewusstsein war, von seiner Schwester drangsaliert wurde, muss es ihn anheimeln, wenn Weiber sich wie Hexen benehmen. Estella lässt Pip immer wieder spüren, dass er eine Art Bauerntölpel ist und auf keinen Fall ein Gentleman. Der Begriff bezeichnete in diesem Zusammenhang einfach einen Menschen, der so viel Vermögen geerbt hatte, dass er nie zu arbeiten brauchte. (Sich dieses Vermögen selbst zu erringen, hieß bereits, kein Gentleman zu sein.)

Pip, der nichts hat, weder geerbt noch errungen, geht also ergeben bei Joe in die Lehre, um Schmied zu werden. Träumt jedoch sehnsüchtig und hoffnungslos davon, irgendwie doch ein Gentleman zu werden und damit auf einer Stufe mit der herrlichen Estella zu stehen. 

Inzwischen versucht seine Schwester. auch den Gesellen der Schmiede, einen rüden Kerl namens Orlick, unter ihre Fuchtel zu bekommen. Praktischerweise kann sie ihn von ihrem kräftigen Mann verhauen lassen. Aber Orlick reagiert weniger sanftmütig; als Mrs. Joe allein zu Hause ist, schlägt er ihr den Schädel ein (und bleibt dabei unerkannt – man glaubt eher an einen weiteren entlaufenen Sträfling als Täter.) Zwar stirbt die Frau nicht daran, ihre Aggression hat der Geselle ihr allerdings abgewöhnt, sie kann hinterher kaum mehr sprechen. 

Und dann wird Pip von einem Londoner Anwalt darüber informiert, dass er für große Erwartungen ausersehen ist! Man holt ihn aus der Schmiede, kämmt ihn und kleidet ihn ein und verfrachtet ihn nach London. So ähnlich wie Elsa von Brabant von ihrem Schwanenritter Lohengrin dazu verdonnert wurde, sich nie nach Einzelheiten zu erkundigen, darf auch Pip auf keinen Fall wissen wollen, wer ihm da plötzlich so viel Gutes  tut. Er meint sowieso, es zu ahnen: Natürlich, sagt sich Pip, es ist die reiche Miss Havisham, verrückt, aber gütig! Sie will ihn zum Gentleman umkrempeln, damit er Estella heiraten kann. Das glaubt der arme Junge wirklich, nachdem er jahrlang zugehört hat, wie die alte verlassene Braut ihrer schönen Pflegetochter, mit Seitenblick auf Pip, zuzischelt: „Brich ihm das Herz!“

In London findet er einen Freund in dem jungen Herbert, einem Verwandten von Miss Havisham. Die beiden teilen sich eine Wohnung und einen Diener, der sie mehr in Verlegenheit bringt, als behilflich zu sein. Herbert, wenig vermögend, doch aus guten Hause, bringt Pip ein wenig Schliff bei, wie man das Messer hält und solche Sachen.

Zum echten ‚Gentleman‘ macht Pip sich allerdings schnell selbst, indem er dünkelhaft und versnobt wird und mit dem Geld, das der Anwalt ihm regelmäßig zukommen lässt, um sich schmeißt, so dass er bald ziemlich verschuldet dasteht. Als der gute alte Joe (der eindeutig nicht zum Establishment gehört), ihn besucht, ist ihm das einfach nur peinlich. Pip entwickelt sich zum oberflächlichen jungen Lebemann.

Dann begegnet er Estella wieder, die natürlich inzwischen derart schön, bezaubernd und unwiderstehlich geworden ist, dass sie einen Rattenschwanz von Verehrern hinter sich herzieht. Pip leidet Eifersuchtsqualen, vor allem, nachdem er erfährt, dass sie ihre besondere Gunst offenbar ausgerechnet seinem Privatfeind, dem Quadratekel Drummel, schenkt.

Auch Miss Havisham ist mit Estella nicht ganz zufrieden, sie wirft ihr Herzlosigkeit vor. Ihre Pflegetochter erwidert, sie selbst habe sie doch dazu erzogen.

In London bekommt Pip unerwarteten Besuch von einem merkwürdigen Mann, Magwitch, der sich gebärdet, als sei er ein lieber alter Verwandter.

Zu Pips Entsetzen stellt sich nun heraus, dass der Sträfling, dem er als Kind geholfen hat, inzwischen nach Australien verbannt und dort zu Vermögen gekommen, seine ganze Liebe auf ihn geworfen hat. Magwitch wollte seinen kleinen Retter zu einem reichen, glücklichen Gentleman machen. Von ihm stammt das viele Geld der vergangenen Jahre – nicht von Miss Havisham! Damit schwindet Pips Hoffnung, dass Estella für ihn bestimmt sein könnte.

Anstatt Magwitch dankbar zu sein, ist Pip angeekelt und abgestoßen von dessen verbrecherischer Vergangenheit. Und obwohl das Vermögen inzwischen durchaus ehrenhaft erworben wurde, will er keinen Cent mehr davon. Er kann sich kaum überwinden, auch nur nett zu dem alten Mann zu sein, der so stolz und glücklich ist über den eleganten jungen Gentleman, den er erschaffen hat. Dass er sich diesen Anblick gönnt, geht für ihn mit Lebensgefahr einher: Magwitch ist auf Lebenszeit verbannt, seine Rückkehr nach England wird, falls man ihn entdeckt, mit dem Tod bestraft. Pip sieht sich gezwungen, seinen Gönner (mit Assistenz seines guten Freundes Herbert) zu verstecken – zumal es so aussieht, als sei Irgendwer ihm bereits auf der Spur.

Er besucht noch einmal Miss Havisham, die inzwischen ihr psychologisches Experiment der Männerbestrafung durch die Pflegetochter bereut. Durch die Heirat mit ausgerechnet dem brutalen Hohlkopf Drummel funktioniert nicht einmal das: Estella wird sein Herz nicht brechen können, denn er besitzt selbst keins. Bei Pips letzten Besuch in dem verdunkelten Hochzeits-Museum verheddert die alte Dame sich in ihrem vergilbten Brautgespinst und fängt am Kamin Feuer. Pip verbrennt sich bei dem Rettungsversuch beide Hände, doch Miss Havisham stirbt bald darauf.

Der böse Schmiedegeselle Orlick hat sich mit Magwitchs Verfolgern zusammengetan und versucht auch noch, den ziemlich wehrlosen, weil handverbrannten Pip abzumurksen – was dessen Freund Herbert im letzten Augenblick verhindert.

Jetzt geht es nur noch darum, den gejagten Magwitch wieder aus England und auf ein Schiff zu bekommen, bevor er geschnappt werden kann. Das misslingt gründlich, Pips alter Gönner (den er inzwischen doch sehr zu schätzen gelernt hat) gerät ins Wasser und in die Schiffsschraube, wird zwar von der Obrigkeit geschnappt, stirbt jedoch an seinen Verletzungen, bevor er hingerichtet werden kann. Bevor er stirbt, klärt Pip ihn noch über etwas auf, das er nach und nach entdeckt hat: dass seine Tochter, von der Magwitch meinte, sie sei als kleines Kind von ihrer Mutter umgebracht worden, von einer reichen Frau zu einer Lady erzogen worden ist – und dass er, Pip, diese Lady liebt. Das hört sich nach Happy-End an und Magwitch stirbt insofern glücklich, da Pip nicht sämtliche Begleitumstände erklärt hat, wie etwa, dass Estella (vermutlich höchst unglücklich) mit einem Monster verheiratet ist.

Magwitchs Reichtum, den Pip ja sowieso ablehnen wollte, geht mit ihm unter, Pip findet sich tief verschuldet und müsste deswegen eigentlich in den Knast. Doch aus dieser Patsche rettet ihn sein alter Ziehvater, der Schmied Joe, der dafür sein Erspartes lockermacht, was erneut zeigt, dass er zwar weder lesen noch schreiben kann, aber über massenhaft Herzensbildung verfügt. Diesmal begreift das auch Pip, der sowieso durch all seine Schicksalsschläge allmählich charakterlich weichgeklopft ist.

Eine letzte Möglichkeit, doch noch ein wenig Zufriedenheit zu erlangen, sieht der gebeutelte junge Mann in Biddy. Das ist ein Mädchen aus seinem Dorf, einfach, aber klug, gewiss an Attraktivität kaum mit einer Estella zu vergleichen, doch zweifellos von inneren Werten strotzend. Seit Mrs. Joe, vermutlich an den Spätfolgen des Mordanschlags von Orlick, das Zeitliche gesegnet hat, führt Biddy dem Witwer den Haushalt. Seit ihrer Kindheit mit Pip im Dialog, kommentierte sie immer mit Skepsis seinen gesellschaftlichen Ehrgeiz, verriet jedoch große Sympathie mit seiner Person. Pip fährt in die Heimat, entschlossen, Biddy zu seiner Frau zu machen und fortan in Bescheidenheit – vielleicht als Schmied? – zu leben.

Aber wie es das Schicksal so will, kommt Pip um einen Hauch zu spät. Er findet seinen guten alten Joe und dessen Haushälterin ungewohnt festlich geschmückt für einen Wochentag: Sie haben eben geheiratet. Pip kann erfolgreich so tun, als wäre das für ihn eine gute Nachricht; und er freut sich ja wirklich für die beiden.

Als er noch ein junger Mann mit großen Erwartungen und hohem monatlichen Taschengeld war, hat Pip jedenfalls etwas Vernünftiges mit dem Schotter angestellt, anstatt es nur zu verpulvern. Er hat heimlich, ohne es merken zu lassen, seinen Freund Herbert unterstützt, so dass der sich ein Geschäft aufbauen konnte. Das blüht und gedeiht nun im ‚Morgenland‘, und Pip tritt als Mitarbeiter ein und bezahlt brav seine Schulden an Joe zurück.

Nach zehn Jahren besucht er in England Joe, Biddy und ihre Kleinen, von denen einer natürlich Pip heißt. Er betrachtet in der Abenddämmerung wehmütig die kahle Stelle, an der einst das düstere Haus von Miss Havisham stand, nun abgerissen.

Da naht sich eine schlanke Gestalt! Wie wir uns alle gedacht haben, ist es ausgerechnet Estella, die ausgerechnet jetzt auch hier einen Blick auf das Grundstück werfen will, das übrigens ihr gehört. Auch sie wurde auf der Flamme des unerbittlichen Schicksals inzwischen ziemlich weich gekocht, ihre Augen blicken nicht mehr ganz so herrlich wie früher, aber sanfter und wohlwollend auf den gereiften Pip. Sie ist Witwe, weil ihr scheußlicher Mann – auf jeden Fall verdientermaßen – nach Misshandlungen an seinem Reitpferd hoffentlich von demselben zu Brei getrampelt wurde.

Sie stürzen sich mitnichten in die Arme und sie reden nicht von Liebe – stattdessen von Freundschaft, und sie fassen sich vorsichtig an der Hand. Der gerührter Leser darf hoffen, dass da doch noch was draus wird.

Dickens hatte ursprünglich vor, dem Roman ein weniger hoffnungsvolles Ende zu verpassen, wurde jedoch von einem Schriftstellerfreund überredet, die Sache zumindest mit dieser positiven Möglichkeit ausklingen zu lassen. (Und er hat das, dem Vernehmen nach, später bereut.)

Viele Literaturkritiker sind der Ansicht, dies sei das künstlerisch bei weitem beste Werk des großen Autors. Auf jeden Fall hat er sich damit weit entfernt von seinem heiteren, sonnigen ersten Roman über die Pickwickier.

Entfernt hat er sich auch von den engelhaften, unglaubwürdig selbstlosen Frauengestalten wie David Copperfields Agnes, Littte Dorrit oder Ester aus Bleak House, die in zwei Dritteln seiner Bücher lebten. Abgesehen von der guten Biddy sind die weiblichen Personen in ‚Große Erwartungen‘ sagen wir mal: schwierig. 

Dickens hatte sich zwei Jahre zuvor von seiner Frau Catherine, der Mutter seiner zehn Kinder, getrennt und lebte nun bis zu seinem Tod in einer Beziehung mit einer hübschen jungen Schauspielerin, die ihm vermutlich ein lebendigeres Frauenbild eingab ,,,

Glücksfaktor, für mich: nahezu alles, was dieser Mann geschrieben hat.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert