Ein ersehntes Kind, der kleine Erich, das erste und einzige nach sieben Jahren einer nicht besonders gelungenen Ehe. 1899 kam er endlich, immer ein Jahr älter als das folgende Jahrhundert. Bereits als Säugling trug er seine drolligen dicken Augenbrauen im Gesicht.
Später hieß es verschiedentlich, sein Vater, Emil Kästner, sei gar nicht sein Vater gewesen – vielmehr stamme Erich vom jüdischen Hausarzt der Familie, Dr. Emil Zimmermann. Aber eigentlich ist es ziemlich egal, welcher Emil sein Vater war. Ida Kästner war seine Mutter, darauf kam es an.
Sie liebte ihn mit ausschließlicher, bedingungsloser, bedingungsvoller, hingebender Liebe. Er war der einzige Mensch in ihrem Leben, der Bedeutung hatte. Er konnte nicht anders, als diese Liebe zu erwidern. Ida Kästner blieb die einzige wirkliche Partnerin seines Lebens.
Weil Familie Kästner wenig Geld hatten (der Vater war als selbstständiger Sattlermeister gescheitert und arbeitete nun in einer Fabrik) vermietete Ida in der kleinen Wohnung ein Zimmer und lernte, mit Mitte 30, einen Beruf. Sie wurde ‚Friseuse‘. Da sie keinen Salon besaß, fanden die von ihr verübten Taten im Schlafzimmer der Familie statt. Der kleine Erich schleppte Porzellankaraffen voll mit heißem Wasser, Mama wusch allen Nachbarinnen den Kopf.
Das alles geschah keineswegs aus Geldgier; der Ertrag sollte helfen, aus Erich ‚etwas Besseres‘ zu machen, nämlich einen studierten Mann. Zunächst meinten Mutter und Sohn noch – weil sämtliche Untermieter Lehrer waren – auch er würde eines Tages die Jugend unterrichten. (Als er entschied, dass er doch kein Lehrer werden wollte, sondern anfing, 1919 in Leipzig Germanistik, Theatergeschichte, Philosophie und Geschichte zu studieren, da war das auch in Ordnung.)
Wenn sie ihre schlimmen Depressionen bekam, hinterließ sie Abschiedsbriefe – an Erich. Die fand der kleine Junge, wenn er aus der Schule kam, und dann rannte er mit fliegendem Atem und hämmerndem Herzen durch Dresden, um zu sehen, auf welcher der vielen schönen Brücken Mama stand und melancholisch ins Wasser blickte. Er griff ihre Hand und rief sie, weinend, und sie kam zu sich wie aus tiefem Schlaf und ließ sich nach Hause bringen.
Als Ida von einer Hochstaplerin, die behauptete, für ihre Hochzeit viele Festfrisuren zu benötigen, um einen größeren Gewinn gebracht wurde, da war es der kleine Erich, der die Frau aufspürte, herausfand, wo sie arbeitete und mit ihrem Chef sprach. Woraufhin seiner Mutter der Schaden in Raten ersetzt wurde.
Ida Kästner wollte die beste Mutter aller Zeiten sein. Erich wurde ein Mustersöhnchen. Nein – kein Muttersöhnchen. Das ist etwas anderes. Er war Idas Partner in jeder Lebenslage. Sie war alleinerziehende Mutter, obwohl der Vater sehr wohl bei ihnen wohnte. Erich wusste, womit er Mama glücklich machen konnte, und so brachte er nur die besten Zensuren nach Hause und er fehlte seine gesamte Schulzeit keinen einzigen Tag, egal, wie krank oder gesund er gerade war.
Foto: Dutch National Archives, The Hague, Fotocollectie Algemeen Nederlands Persbureau
Ida lernte Schwimmen, um mit dem Jungen ins Wasser zu gehen. Sie kaufte Rucksäcke und unternahm mit ihm tagelange Wanderungen. Sie redeten über alles. Es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen. Vater Kästner hatte mit all dem nichts zu tun. Er war allenfalls das fünfte Rad am Wagen.
Erich Kästner war ein sinnlicher Mann (und in seiner Jugend ein attraktives Kerlchen), er war interessiert an Frauen. Von vornherein stand fest, dass es keine gab, die mit ihm eine wirklich vertrauensvolle, ausschließliche Beziehung haben konnte. Dieser Platz war besetzt.
Über Jahrzehnte pflegten Ida Kästner und ihr Sohn einen nahezu täglichen Briefwechsel, nicht sosehr ein Dialog als vielmehr ein Monolog mit Zuhörerin. Er berichtete, was er erlebte, durchaus auch mal mit erotischen Details. Man kann das sehr schön nachlesen in Florian Illies‘ Bestseller Liebe in Zeiten des Hasses: Chronik eines Gefühls 1929 – 1939. Dort sind unter anderem Schnipsel liebender Prominenter dieser Zeit gesammelt, darunter auch viele Mitteilungen von Erich an das ‚liebe, gute Muttchen‘, in denen er, stets leicht ironisch, die Frauen schildert, die ihm oft ein wenig zu verliebt sind.
Mit 26 Jahren war er Doktor der Philosophie – und Zeitungsredakteur in Leipzig. Zwei Jahre später flog er, wegen eines zu frechen Textes, aus dem Job, ging nach Berlin und machte dort erst richtig Karriere als freier Schriftsteller und Publizist an den renommiertesten Blättern. Er liebte die Cafés der Großstadt und schrieb am liebsten dort am Tisch, mit einem Bleistift in karierte Heftchen.
Ein zierlicher, geistreicher, überaus gebildeter Mann mit der Sensibilität und der zerrissenen Seele der Fische. Häufig zynisch, sich über Gefühle mokierend – und gleichzeitig voll romantischer Sehnsucht, durchaus kindlich im Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Güte.
Sein Kollege Robert Neumann portraitierte ihn treffend: ‚… halb ein Bürgerschreck und halb ein erschrockener Bürger dichte ich mich leicht frierend durch das Menschengewühl …‘
Für Halbgebildete ist und bleibt Kästner Kinderbuchautor, obwohl er ein viel breiteres Spektrum bediente. Doch natürlich sind seine Kinderbücher, von ‚Emil und die Detektive‘ bis zu ‚Der kleine Mann und die kleine Miss‘ besondere Erfolge gewesen und haben sich tief ins allgemeine Bewusstsein eingeprägt. Er hat nicht wenig an der Überzeugung gearbeitet, dass Kinder die besseren Menschen sind. Letztendlich musste er, als lebenslanger Sohn, ein ewiges (sehr frühreifes) Kind bleiben und die Welt aus dieser Perspektive betrachten.
Im Buch Das doppelte Lottchen beschreibt er die – gute – Mutter der Zwillinge und die – böse – Geliebte des Vaters. Andersherum wäre es in seiner Welt nicht gegangen.
Das geliebte Muttchen besingt er immer wieder. Sie tritt in nahezu allen Büchern auf, sie ist stets irgendeine liebevolle, warmherzige Mutter, die von Emil, die von Pünktchens Anton, die von Martin aus dem Fliegenden Klassenzimmer, sogar die von Fabian, obwohl das ganz und gar kein Kinderbuch ist. Oder in seinen Gedichten:
Das ist ein Glück: mit seiner Mutter fahren, weil Mütter doch die besten Frauen sind. Sie reisten mit uns, als wir Knaben waren, und reisen nun mit uns, nach vielen Jahren, als wären sie das Kind.
oder:
Seine Mutter saß am Tisch und schrieb.
Ernsthaft rückte sie an ihrer Brille,
und die Feder kratzte in der Stille.
Und er dachte: Gott, hab ich sie lieb!
Ganz sicher nicht zuletzt ihretwegen blieb er in der Nazi-Zeit, als verbotener und verbrannter Schriftsteller, in Deutschland. Im letzten Kriegsjahr flüchtete er allerdings nach Österreich – seine Mutter hörte ein Jahr lang nichts von ihm. Das brach ihre Lebensfeder entzwei. Als er sie 1946 endlich wieder in Dresden besuchte, erkannte sie ihn noch – dies eine Mal. Danach versank sie in geistiger Umnachtung. Wenn er von da ab kam, fragte sie ihn, als wäre er ein Fremder: „Wo ist denn der Erich?“ Und blieb in dieser vergeblichen Sehnsucht bis zu ihrem Tod, fünf Jahre später.
Doch, er hatte eine so genannte Lebensgefährtin, das war die Journalistin Luiselotte Enderle. Sie waren seit Mitte der 30er-Jahre bis zu seinem Tod ein Paar, vierzig Jahre lang. Ihren Namen trägt interessanterweise die Mutter von Luise und Lotte – ansonsten ist diese Figur im Doppelten Lottchen wieder Ida Kästner, die mit ihrem Kind Wanderungen unternimmt.
Luiselotte Enderle wäre vermutlich nicht ungern mit dem schwierigen Mann verheiratet gewesen, und sie kam diesem Anspruch so nahe wie nur möglich. Da sie ständig sehr selbstlos für ihn da war, übernahm sie in gewisser Weise den Posten einer Zweitmutter. Was bedingte, dass er sich nebenher in junge Frauen verliebte und das auch auslebte.
Enderle setzte ihm des Öfteren Schnüffler auf die Spur, sie jagte gewissermaßen Erich die Detektive hinterher. Wenn eine Affäre aufflog, versprach er, die betreffende Geliebte aufzugeben und tat das entweder wirklich – oder war von da ab vorsichtiger.
Von seinem Sohn Thomas, der 1957 geboren wurde – als der Schriftsteller fast sechzig war – erfuhr seine Lebensgefährtin erst drei Jahre später und verlangte, dass er jeden Kontakt zu Mutter und Kind sofort abbrach. Also war er, was das anging, nun viel vorsichtiger.
Immerhin ist es Luiselotte, die nun neben ihm in seinem Grab in München-Bogenhausen liegen darf.
Über Erich Kästners Beziehung zu seiner Mutter und zu anderen Frauen ist viel geschrieben worden, Bücher und Abhandlungen und Doktorarbeiten mit vielen Theorien darüber, wie und wo und weshalb das alles krank war.
Auch über seinen Anspruch an den Leser, sie sollten ihren Kindern bessere Eltern sein – im Gegensatz zu seiner eigenen etwas kläglichen Vaterrolle.
Dazu wäre zu sagen: Wie gesund oder krank eine Beziehung ist, lässt sich grundsätzlich schlecht von außen beurteilen. Ich habe ein großes Misstrauen gegen das Format der ‚Familienaufstellung‘, das vorgeben will, an welchen Platz jedes Familienmitglied unabdingbar gehört, damit alles stimmt.
Was richtig und was falsch ist, hat nicht nur mit der jeweiligen Zeit und Kultur zu tun, sondern mit den ganz individuellen Menschen. Meiner Meinung nach kann es absolut stimmig sein, wenn gewohnte Plätze vertauscht sind. Normal ist immer nur ein temporärer Begriff. In der Bibel sind ehrenwerte Männer mit Hunderten von Frauen verheiratet und das hat offenbar seine Richtigkeit. Noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts galt eine Familie als gesund, wenn Mutter im Hause blieb und sich um Kinder und Küche kümmerte; alles andere schien bedenklich. Und noch vor vierzig Jahren galt Gleichgeschlechtlichkeit als verfehlt.
Erich Kästner und seine Mutter waren zwei Menschen, die sich ungewöhnlich gut verstanden, sich ungewöhnlich wichtig waren und sich gegenseitig außerordentlich lieb hatten. Für beide war das unzweifelhaft ein großer Gewinn.
Hätte er die Sache durch seine Bücher nicht so an die große Glocke gehängt, hätte er beispielsweise Frau Enderle zu Frau Kästner gemacht und im Übrigen seine Geliebten gehabt samt unehelichem Kind – dann wäre er nach dem allgemeinen Verständnis ein normaler Mann gewesen. Dann hätte es keine Anhandlungen oder Doktorarbeiten darüber gegeben, was mit ihm ’nicht stimmte‘.
Glücksfaktor: Wenn Menschen es schaffen, die anderen einfach sein zu lassen, wie sie sind …