30.7. Der letzte Freitag im Juli ist in Amerika ‚Talk-in-an-Elevator-Day‘


Quatsch jemandem im Fahrstuhl an!

Vielleicht will er gar nicht? Die Amerikaner, das alte Einwanderervolk, gehen davon aus, dass es ihn beglückt. Wenn ein Mensch wochenlang in der Prärie unterwegs war und endlich einem anderen begegnete (vorausgesetzt, der wollte ihn nicht massakrieren) dann freuten sich beide halbtot. Wenn jemand neu in die Gegend zog, dann backte Mama Kuchen, den sie vorbeibrachte, und man marschierte sonntags zusammen in die Kirche. Gemeinsamkeit ist etwas wunderbares.

Das hat sich in Millionenstädten verloren. Soviel Kuchen kann Mama gar nicht backen, um sich mit Nachbarn in Hochhäusern vertraut zu machen. Nun wohnt man nebeneinander, ohne  sich zu kennen, schweigt sich im Aufzug grämlich an und guckt aneinander vorbei. 

Man könnte denken, der Fahrstuhl wurde in den USA erfunden, denn hier entstanden schließlich  (wenn wir mal von Babel absehen wollen) die ersten Wolkenkratzer. Stimmt aber nicht ganz. Mit dem Lift-Prinzip hat sich die Menschheit bereits im Altertum beschäftigt. Archimedes baute ungefähr 240 Jahre vor Christi Geburt einen Aufzug! Im Mittelalter gab es immer wieder mal Kabinen, die an Hanfseilen hingen und Lasten oder Tiere nach oben zogen. Und natürlich hat auch Leonardo da Vinci an so etwas herumerfunden.

Im neunzehnten Jahrhundert blieb man gern beim Treppenhaus. Lasten nach oben zu hieven, das ging in Ordnung. Aber Menschen?! Gotteswillen. Eine Weile galten Gebäude mit mehr als vier Stockwerken sowieso als gesundheitsschädlich. 

Doch dann kamen immer mehr Einwanderer in das große, freie Land, in dem man nur Indianer abschlachten musste, um Platz zu haben. Irgendein berühmter Indianer hat gesagt, es nütze nichts, die Weißen zu töten; es  gäbe ihrer zu viele. Wenn man sie besiegt habe, kämen wieder neue über das große Wasser mit ihren Schiffen. Die Indianer versuchten, den Einwanderern zu erklären, dass es nun genug sei. Sie besaßen keine Möglichkeit, die Schiffe von ihren Küsten abzuwehren oder Auffanglager und Mauern zu bauen. Schließen kamen sie teilweise selbst in Auffanglager und die Weißen bauten immer größere Städte mit immer höheren Häusern – nachdem sich herausgestellt hatte, dass mehr als vier Stockwerke keineswegs der Gesundheit schadeten.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts erschien ein Mann mit einem rechteckigen Bart und ernsten Augen, der Mechanikermeister Elisha Graves Otis, der sich Gedanken über die Gefährlichkeit eines Aufzugs machte.

1854 zeigte er auf der Weltausstellung in New York eine von ihm erfundene Sicherheitsvorrichtung, die verhinderte, dass ein Lift abstürzte, selbst, wenn sein Tragseil gerissen war. Ergebnisse: die Otis Elevator Company, bis heute der größte Fahrstuhlhersteller der Welt. Und immer höhere und höhere Hochhäuser –  sowie schließlich die Anonymität in denselben.

Es war möglich gewesen, die 70 bis 120 Einwohner in einem Pionierstädtchen mehr oder weniger gut zu kennen. Es wurde unmöglich, mit den durchschnittlich 700 Bewohnern eines New Yorker Wolkenkratzers auch nur flüchtig Bekanntschaft zu schließen. Aus diesem schmerzlichen Dilemma dürfte der Talk-in-an-Elevator-Day entstanden sein. 

Es gibt Videos, die erklären, wie man das anfängt. Darin wird heiter erläutert, wie erfreulich und nett das für alle Beteiligten sein wird. Sie lassen Menschen außer acht, die tief in eigene Gedanken versunken sind, die im Moment ganz bestimmt nicht quatschen wollen, weil sie den ganzen Tag quatschen mussten, die nach oben fahren, um sich anschließend vom Dach zu stürzen – oder runter, um ein neues Leben anzufangen, während sie noch drüber nachdenken, was für eins und bestimmt nicht gerade scharf darauf sind, mit: „Hi! How are you? I’m Buddy from the seventeenth  floor!“ unterbrochen zu werden. Alleinsein, das hat sich noch nicht herumgesprochen, ist nicht unbedingt  immer mit Einsamkeit identisch.

Aber für viele verhärmte Großstadtbewohner kann es bestimmt entzückend sein, einen kleinen Schwatz im Fahrstuhl zu halten.

Glücksfaktor: Vielleicht entsteht eine Freundschaft fürs Leben daraus – oder eine gelungene Partnerschaft. Oder jedenfalls ein lukrativer beruflicher Kontakt …


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