Malte schaute nicht in den Garderobenspiegel, bevor er das Haus verließ. Deshalb wusste er nicht, dass sein Haarwusch zu Berge stand, dass er stoppelbärtiger als gewöhnlich aussah und dass seine großen blauen Augen geschwollen und rot geädert zwinkerten.
Nele Peters allerdings, eine Schülerin seiner achten Klasse, bemerkte sofort, dass Herr Jansen ganz anders aussah als gewöhnlich.
Nele gehörte zu den Mädchen, die Malte einfach süß fanden. Sie war auf dem Weg zur Seminarstraße, in der das Ludwig-Meyn-Gymnasium liegt, zur zweiten Stunde: Biologie, als sie ihren Lehrer, ganz ungewohnt, mit dem Hund statt mit der Aktentasche des Weges kommen sah. Dazu in einem langsamen, unsicheren Gang und bei näherem Hingucken recht derangiert.
Natürlich hatte Nele auch schon davon gehört, dass Tonja Jansen gestern mit zwei riesigen Koffern auf dem Bookstedter Bahnhof in den Zug gestiegen war. Sie hatte sich zunächst spontan darüber gefreut, denn für ihren Geschmack war diese aufgedonnerte Zicke für einen feinen Kerl wie Herrn Jansen noch nie gut genug gewesen. Aber wenn sie ihn jetzt so ansah – Au!
Nele lächelte Malte taktvoll an, grüßte höflich und streichelte Baldur die lockigen Schlappohren. Der wedelte erfreut. Dies war ein nettes Mädchen. Sie hatte ihn einige Male Gassi führen dürfen und ihm bei dieser Gelegenheit Kotelettknochen verehrt.
Malte musterte die hübsche kleine Nele nachdenklich, ihre großen schwarzen Augen und die lustige Stupsnase. Sie verstand sich auf Tiere.
„Magst du Hunde?“, fragte er. Das war eine dumme Frage, denn Nele und Baldur schmusten gerade ganz herzlich miteinander. Aber Nele fand Herrn Jansen niemals dumm. Also nickte sie freundlich.
,,Dürftest du einen Hund haben? Würden deine Eltern das erlauben?“, fuhr er fort.
Nele nickte wieder. ,,Ja, sie meinen, jetzt wäre ich groß genug. Wir haben erst neulich drüber gesprochen.“
Malte reichte dem Mädchen hastig die Lederschlaufe der Hundeleine. ,,Dann schenke ich dir Baldur. Zu Weihnachten. Sei lieb zu ihm.“
Damit wandte er sich um und ging schnell, aber unsicher davon.
Nele blickte ihm mit offenem Mund hinterher. Dann schaute sie Baldur an, der etwa ebenso verdutzt aussah.
Und dann rannte sie, den großen Hund mit fliegenden Ohren neben sich, zurück nach Hause. Sie musste Baldur ja hier abliefern, bevor sie zur Schule ging.
Inzwischen suchte Malte im Badezimmerschränkchen nach Tabletten. Tonja hatte oft Einschlafprobleme gehabt, da gab es eine Menge verschiedener Pillen. Er schaute grimmig in den sonnigen, funkelnden Wintermorgen hinter dem Ba:dezimmerfenster hinaus, als er die aufgelösten Mittel mit großen Schlucken trank. Nun war er neugierig auf das Jenseits. Wie es da wohl sein mochte?
Malte erwachte mit Kopfschmerzen. Etwas Übelkeit verspürte er auch und sein Hals schmerzte. Das fand er spontan enttäuschend – er hatte gedacht, mit so etwas würde man nach dem Tod nicht mehr belästigt. Er lag auf einem harten Bett, vor ihm war eine weiße, schmucklose Wand.
Wenn dies das Jenseits sein sollte, dann wirkte es erschreckend phantasielos.
Dann allerdings beugte sich ein Engel über ihn. Ein Engel mit großen dunklen Augen und in der Mitte gescheiteltem schwarzem Haar. Den hatte er schon einmal gesehen … Richtig: gestern Abend in der Kirche.
,,Das könnte· Ihnen so passen, Herr Jansen!“, sagte der Engel. Er hatte eine tiefe, leicht heisere Stimme und klang recht irdisch. ,,Ihren armen Hund einem kleinen Mädchen andrehen, ganz Pottschrapels in Trauer stürzen und abhauen. Und das auch noch kurz vor Weihnachten! Schämen Sie sich gar nicht?“
„Wer sind Sie“, flüsterte Malte mit schmerzender Kehle. ,,Ihre Stimme kommt mir so bekannt vor. Haben wir uns schon mal – ?“
,,An meine Stimme erinnern Sie sich? Na, immerhin. Ich bin Maike Peters; die Schwester von Nele Peters. Ich war mal Ihre Schülerin, etwa ein halbes Jahr lang bis zum Abitur, das ist fast neun Jahre her, wir waren damals gerade nach Pottschrapels gezogen. Nele geht in Ihre achte Klasse.“
Maike Peters? Undeutlich erinnerte er sich. ,,Damals bist du … sind Sie aber viel dünner gewesen, nicht? Und Sie hatten so eine Pinselfrisur, ganz kurz und wie ein Papagei…“
,,Ja, das war meine Trotz.Phase. Sie erinnern sich ja wirklich an mich! Ich dachte immer, Sie würden mich überhaupt nicht bemerken. Also so bemerken, wie ich’s mir gewünscht hätte. Gestern Abend in der Kirche haben Sie mich auch nicht wahrgenommen.“
,,Doch! Doch, das hab ich!“, widersprach Malte krächzend.
Die schöne Maike blickte zweifelnd. Übrigens trug sie einen weißen Kittel.
„Was machen Sie eigentlich hier?“, wollte er wissen.
„Ich rette Sie. Ich hab Ihnen den Magen ausgepumpt, deswegen tut Ihr Hals sicher etwas weh. Ich bin inzwischen Ärztin und seit einigen Tagen am Bleekerstift. Ich hatte Nachtdienst und bin todmüde und gehöre eigentlich ins Bett. Aber als ich nach Hause kam, war da Ihr Hund. Meine Eltern erzählten mir, dass Nele ihn\ gebracht hat und wie sie dazu kam. Und da hab ich sofort gesagt: Wir müssen bei Herrn Jansen die Tür aufbrechen lassen!“
,,Die Tür aufbrechen … ?“, wiederholte Malte mühsam.
„Allerdings. Ich komme gerne für den Schaden auf, Herr Jansen. Aber mir war sofort klar: Sie können nur einen Grund haben, plötzlich Ihren Hund wegzugeben – ja, und das halte ich nicht aus. Wissen Sie, ich hab jahrelang für Sie geschwärmt, jetzt kann ich das ja ruhig mal sagen, Sie waren irgendwie so meine erste große. Liebe. Und ich will nicht, dass Sie sterben, verdammt noch mal! Ich will, dass Sie leben!“
,,Sie wollen, dass ich lebe … “ krächzte Malte.
.,,Na klar doch. Sie sind ein Super-Lehrer, das findet meine Schwester genau wie ich, mal ganz zu schweigen von Ihren Wimpern und dieser Schüttellocke über Ihrem Auge – und es ist eine Zumutung, auch noch genau im Advent, hier groß und breit zu sterben und alle Leute zu bekümmern, die Sie verehren und bewundern und lieb haben … “ schimpfte Maike mit dieser dunklen, etwas heiseren Stimme.
Malte lächelte. Sein Kopf und sein Hals taten immer noch weh und übel war ihm nach wie vor. Aber er merkte, dass er sich offenbar doch noch freuen konnte.
Das Leben schien eigentlich gar nicht so hoffnungslos düster.
Und letztendlich war bald Weihnachten …