Aids – die Seuche der Außenseiter?


Seit es sie gibt, starben 35 Millionen Menschen an der Epidemie. Gar nicht mal so wenig, wenn man bedenkt, dass das HI-Virus sich erst in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Öffentlichkeit vorstellte.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Epidemie-Erregern, die oft lange vor unserer Zeitrechnung die Menschheit belästigten, ist Aids blutjung. 1981 berichtete die amerikanische Gesundheitsbehörde über die Häufung von durch einen Pilz ausgelöste Lungenentzündungen in Los Angeles. Eigentlich kannte man so etwas nur bei Patienten mit ausgeprägter Immunschwäche und entsprechenden Vorerkrankungen. Bei diesen Betroffenen handelte es sich jedoch um vorher gesunde Männer. Bemerkenswert daran: Alle waren homosexuell.

Bald darauf gab es in anderen amerikanischen Städten Erkrankungen mit dem Kaposi-Sarkom (Tumore auf der Haut, an Schleimhäuten und im Darm), ebenfalls eine Krankheit, die überwiegend Patienten befiel, deren Immunsystem stark geschwächt war. Und wieder ging es um homosexuelle junge Männer. Allmählich wurde klar, dass da etwas unheimliches Neues entstanden war …

Inzwischen meint man zu wissen, wo das Virus herkam: aus Zentralafrika. Ein Forscherteam sammelte in Kamerun unverdrossen mehr als 440 Kotproben von freilebenden Schimpansen. In dem Poopoo befanden sich entsprechende Antikörper gegen den schimpansischen HI-Virus; dennoch sind die Schimpansen nicht die eigentliche Ursprungsquelle. Sie haben vielmehr wahrscheinlich kleinere Affenarten massakriert und verspeist, die einen Vorläufer des Virus in sich trugen.

Eventuell wirft das die Frage auf, ob Schimpansen auch gut beraten wären, nicht so viel Fleisch zu essen. Vor allem jedoch zeigt es die Gelenkigkeit vom HIV, das gleich am Anfang seines Daseins zweimal die Artengrenze übersprang. Einmal vom Affen zum Menschenaffen, dann vom Menschenaffen zum Menschen. Es wird angenommen, dass Jäger die infizierten Schimpansen gegessen haben. Und da hatten sie die Infektion.

Weiter ergaben Forschungen, dass der Erreger aus Kamerun ungefähr 1966 nach Haiti gelangte, sich dort gelinde verbreitete und dann aufmachte, um die Welt zu erobern. 1969 erreichte er Nordamerika und tändelte ein wenig zwischen heterosexuellen Paaren herum, bevor er sich begeistert auf den homosexuellen Anteil der Bevölkerung stürzte. Da hatte er eine seiner Zielgruppen gefunden! Denn deren Art von Liebe hinterlässt viel häufiger kleine Verletzungen, die HIV braucht, um sich einzunisten.

Ebenfalls oft und gern ließ das Virus sich mit Drogenabhängigen ein, die brüderlich oder schwesterlich ihre Spritze teilten, und recht lohnend fand

es auch die vielen Menschen, die Bluttransfusionen brauchten. Inzwischen ist zumindest diese Möglichkeit der Ansteckung hierzulande äußerst gering. Es heißt, das Risiko, über infiziertes Blut in Deutschland HI-Viren zu bekommen, werde auf 1 zu 4,3 Millionen geschätzt. Das ist doch eine gute Quote.

Eine besonders hässliche Methode, das Virus zu verbreiten gibt es leider überall, wo Mädchen Genitalverstümmelungen erleiden. Häufig wird das in großer Anzahl mit verunreinigten, immer wieder gebrauchten Werkzeugen praktiziert. In südafrikanischen Gebieten leiden deshalb teilweise mehr als 20% der jungen weiblichen Bevölkerung bereits an Aids.

Das HI-Virus überträgt sich durch Blut (am liebsten), Sperma, Liquor (das ist Gehirnwasser oder Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit) Vaginalsekret und Muttermilch. Am häufigsten durch ungeschützten Sex, es ist nun mal, wenn es auch andere Wege findet, eine Geschlechtskrankheit.

Das HI-Virus überträgt sich NICHT durch Speichel, Tränen, Insektenstiche, normalen (also moralisch völlig einwandfreien) Körperkontakt, gemeinsames Geschirr oder Besteck – oder dasselbe Klo. Ach, und noch eine gute Nachricht: Durch Küssen, selbst stundenlanges, überträgt sich HIV auch nicht.

Es ist zweierlei, mit dem Virus angesteckt zu sein – oder Aids zu haben. Letzteres gilt erst ab einem bestimmten Stadium der Infektion.

Während ich diese kleine Serie schreibe, ist mir klar geworden, dass offenbar jede anständige Seuche anfängt wie eine unschuldige Grippe. Ich bekomme seitdem mehr und mehr Verständnis für Menschen, die bei Erkältungssymptomen in Panik geraten. Man kann wirklich nie wissen, was draus wird.

Auch diese Infektion beginnt also, zwei bis sechs Wochen nach einer Ansteckung, mit Fieber, Kopfweh, Gelenkschmerzen, Durchfall, Schluckbeschwerden wegen geschwollener Lymphknoten, Hautausschlag und Gewichtsverlust.

Manchmal kommt es vor, dass sich jemand zwar angesteckt hat – doch er bemerkt die Grippe-Symptome nicht, weil er ein harter Kerl ist. Oder weil er wirklich keine hat. Auf die Art erfährt er zunächst nicht, dass er ein gefährliches Virus in sich trägt. Und dass er andere damit ansteckt …

In der nächsten Zeit tut sich dann – nichts. Wer weiß, dass er HIV-positiv ist, der kann sich grämen und sich therapieren lassen, um den Ausbruch der Krankheit hinauszuzögern. Schmerzen hat er keine, während sich das Virus damit beschäftigt, sich zu vervielfältigen und Krieg zu führen mit den körpereigenen Abwehrkräften. Manche Menschen bekommen einige Monate nach der Ansteckung Aids. Bei anderen dauert diese Phase mehrere Jahre. Woran das liegt, bleibt das Geheimnis des Virus.

In vielen Fällen erleiden Unbehandelt jedoch nach einigen Jahren eine Reihe ‚opportunistischer Infektionen‘. Weil das Immunsystem inzwischen durchlöchert ist wie ein zu oft gewaschenes Taschentuch, hat der Organismus keine Verteidigungsmöglichkeit mehr. Andere Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten erhalten freie Bahn. Wenn schließlich bösartige Tumoren und ‚AIDS-definierte Infektionen‘ auftreten, dann und nicht eher folgt die Diagnose AIDS.

Aber wenn AIDS ein Todesurteil ist, dann inzwischen keins mehr, das schnell vollzogen wird. Wie ein verurteilter Verbrecher Jahrzehnte in seiner Zelle auf die Giftspritze wartet, so schmort mancher Patient im Wechsel zwischen Verzweiflung und der Hoffnung auf Begnadigung. Inzwischen kennt man fünf oder sechs Personen auf der Welt, die HIV-positiv waren, jetzt aber keinen Virusbefund mehr zeigen.

Ein Impfstoff existiert nicht, hauptsächlich wegen der Geschmeidigkeit und Beweglichkeit des Virus, der es schafft, sich immer wieder zu ändern und auszuweichen. Heute leben ungefähr 90.000 Menschen in Deutschland, die HIV-positiv sind. Inzwischen gibt es so effektive Medikamente, dass die Betroffenen eine nahezu normale Lebenserwartung haben und ein fast normales Leben führen können. Wird HIV rechtzeitig erkannt und behandelt, kann man vermeiden, dass AIDS daraus wird.

Viel schlimmer ist es südlich der Sahara, wo jeder Zwanzigste infiziert ist, übrigens vor allem durch heterosexuellen Verkehr. Durch AIDS ist hier in einigen Ländern die Lebenserwartung um mehr als zehn Jahre gesunken. Inzwischen ändert sich das ein wenig, weil es mehr Information und Aufklärung gibt. Das wurde zwanzig Jahre lang von der Katholischen Kirche verhindert: Der Papst hatte ein kleines Problem mit Präservativen und präventivem Gequatsche wie Aufklärung in den Schulen. Er fand, solange die Leute sich manierlich verhielten, könne ihnen schließlich nichts passieren.

Das Nachrichtenmagazin SPIEGEL nannte die Krankheit 1983 ‚Schwulenpest‘ und beklagte, dass die Betroffenen ausgegrenzt würden. Das war ganz sicher so. Sie wurden ausgegrenzt, weil man sich nicht an ihnen anstecken wollte. Und sie wurden ausgegrenzt, weil sie schwul waren. Bis zum 11. Juni 1994 machten sich nach Paragraph 175 des Deutschen Strafgesetzbuches männliche Personen strafbar, wenn sie ‚unzüchtige Handlungen‘ miteinander begingen. Das konnte Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren geben.

Der Papst war ja auch dagegen.

Im klassischen Altertum wurde Homosexualität gesellschaftlich akzeptiert,

im Mittelalter galt sie zwar bereits als Sünde, jedoch noch nicht als Verbrechen. Das wurde ab dem 13. Jahrhundert in Europa anders. Man veranstaltete Hunderte von Hinrichtungen, oft durch Verbrennen der Sünder. Bischof John Atherton und seinen Verwalter John Childe hängte man beispielsweise wegen Sodomie 1640 in Dublin an den Galgen.

Jahrhundertelang hatten Homosexuelle überhaupt keine Lobby. Wer nicht anders konnte, der lebte seine Neigung so geheim wie möglich aus. Die allermeisten Karrieren wären daran gescheitert, wenn es rausgekommen wäre. Von vielen berühmten und bekannten Männern hat man erst lange nach ihrem Tod erfahren, wie sie sich ihr Leben lang damit herumgequält haben. (Um das mal zu sagen: homosexuelle Frauen wurden nicht annährend so schikaniert.) Etliche dieser Männer haben Frauen geheiratet, um ihre Neigung zu vertuschen und, Gott behüte, einen ’normalen‘ Eindruck zu machen.

Das tat auch der riesengroße, bildhübsche Roy Scherer, nachdem er unter dem markigen Namen Rock Hudson ein Hollywoodstar geworden war, der anderen Herren Kinnhaken verteilte und schöne Frauen küsste – vor der Kamera. Rock Hudson stellte über Jahrzehnte den kraftvollen, durch und durch männlichen Amerikaner dar, eine Identifikationsfigur, gern auch als charmanter Schürzenjäger. 1955 spielte er den Gatten von Elizabeth Taylor im Film ‚Giganten‘. Da war er gerade seit einem Jahr mit Phyllis, der sympathischen Sekretärin seines Agenten, verheiratet und mimte auch privat den Ehemann. Die Ehe hielt drei Jahre, dann erwische Phyllis ihren Rock mit einem Mann, reichte die Scheidung ein, klatschte die Sache jedoch nicht herum. Seine Freundschaft mit Elizabeth Taylor hielt länger, sicherlich, weil er ihr nichts vormachte und weil sie eben nur gute Kumpel waren.

1982 fand im weißen Haus eine Pressekonferenz statt, und als ein Reporter Präsident Reagan eine Frage zur AIDS-Seuche stellte, antwortete der mit einer flapsigen Bemerkung. Schließlich war diese neue Seuche – bei aller Liebe – doch nur ein Problem der Randgruppen, Junkies und warme Brüder. Haha.

In den folgenden Jahren änderte sich allerdings eine Menge in der Wahrnehmung. So wurde etwa 1985 bekannt, dass bei Patienten, die auf ständige Blutspenden angewiesen waren und die HIV-infiziertes Blut bekommen hatten, die Ansteckungsrate ihrer Ehefrauen bei 70% lag. Das war nicht mehr witzig und da fehlte auch der ‚Selber-schuld-Effekt‘. Mehr noch, plötzlich kam das Gefühl auf: Das könnte uns alle treffen! Zumindest, solange wir ein Liebesleben haben. Der Papst meinte ja an dieser Stelle, man sollte es im Ehebett tun oder gar nicht. Und noch nicht einmal das hatte den Frauen der Blutkranken genützt.

Irgendeiner profitiert immer – dies war die Stunde der Gummifabrikanten. Im Übrigen wurden die Mitbürger aufgeklärt: ‚Gib AIDS keine Chance‘, man trug ein rotes Schleifchen am Jackenaufschlag. Hella von Sinnen saß in einem Werbespot zum Thema an der Ladenkasse und brüllte ohne Mitleid mit ihrem verlegenen Kunden durch den Laden: „Tina, wat kosten die Kondome?“

Dann, 1985, starb Rock Hudson und outete sich ganz zum Schluss. Die Menschheit war sprachlos. Bitte?! – Der?! Aber der war doch kein Friseur – keine Tunte? Im selben Jahr fand in Atlanta die erste Welt-AIDS-Konferenz statt. Zwei Jahre später entrang sich auch Ronald Reagan zum Thema einige ernsthafte Worte. Es blieb ihm nichts Anderes übrig – Elizabeth Taylor hatte ihm einen geharnischten Brief geschrieben, er möge sich bitte einbringen. Sie wurde Vorsitzende einer der ersten großen AIDS-Benefiz-Veranstalter und gründete 1991 ihre eigene AIDS-Foundation. Da war die Seuche längst zur Pandemie geworden.

Aber der HI-Virus änderte allmählich, zumindest, solange der Papst nicht zu Worte kam, die Einstellung zu Homosexualität. Zwischen 1985 und 1995, der Zeit, in der die Krankheit immer mehr Opfer suchte, wurde es Mode, sich zu outen, sogar im prüden, verklemmten Amerika.

Als Freddie Mercury starb, 1991, hatte das schon ein anderes Echo, von vornherein mehr Verständnis und Liebe der Fans. Er war ein so begnadeter Sänger gewesen, und schließlich, was er in seiner Freizeit getan hatte, war seine Sache …

1993 spielte Tom Hanks im Film Philadelphia einen aidskranken Homosexuellen, der sich gegen Diskriminierung wehrt, kassierte dafür den Oscar und machte einige seiner homophoben Mitbürger nachdenklich.

Die schreckliche Seuche, die so viel Leid verursachte und so viele Leben forderte, hat andererseits große, verhärtete Stücke von Intoleranz, Bigotterie und Selbstgefälligkeit losgebrochen.

Glücksfaktor: Ein alter, irischer Spruch – ‚Es ist kein Unglück, noch so groß, es hätt‘ nicht etwas Glück im Schoß …‘


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