Am 14. Oktober 1806 hat Christiane Vulpius Goethe gerettet


Und gleich anschließend, so erklärte mir das meine Erzieherin im Internat, hätte er sie zur Belohnung geheiratet. Obwohl sie ja eigentlich wirklich nicht sein Niveau besaß. Also wirklich nicht.

Zumindest besaß sie Schneid: An diesem Tag hatten die Truppen Napoleons bei Jena und Auerstedt einen Sieg errungen und plünderten in ihrer Begeisterung auch gleich Weimar, die Heimatstadt des Dichterfürsten. Sie drangen in das Goethe’sche Schlafzimmer ein und bedrohten den Hausherren. Der dachte noch darüber nach, ob er sich wehren sollte, und falls ja, wie – als Christiane den Soldaten entgegenschwirrte wie ein tollwütiger Kanarienvogel, um ihren Liebsten zu verteidigen. Was die Männer derart verdutzte, dass sie wirklich bald darauf das Haus verließen.

Und das beeindruckte also auch Johann Wolfgang so sehr, dass er Christiane fünf Tage später (zum schnellstmöglichen Termin) zu Madame Goethe machte. An der überaus schlichten Zeremonie nahm ihr (von fünf Kindern einziger überlebender) Sohn teil, der 16jährige August. Und danach holte ganz Weimar tief Luft, um sich aus Leibeskräften das Maul zu zerreißen. Geheimrat Goethe hatte die Person wirklich geheiratet!

Schlimm genug, dass er seit 18 Jahren mit ihr eine wilde Ehe führte. Gut, er hatte sie natürlich keineswegs jemals offiziell vorgestellt. Wenn Schiller ihn besuchte, blieb Christiane beispielsweise in der Küche. (Und Schillers Frau Charlotte, die Christiane bisher ‚das runde Nichts‘ genannt hatte, sprach nach der Trauung von ‚Goethes dickerer Hälfte‘.) Die gute Gesellschaft sagte ‚das Kreatürchen‘, Goethes Mutter spottete: ‚Wolfgangs Bettschatz‘. Bettina von Arnim schrieb über sie, sie wäre eine ‚tollgewordene Blutwurst‘.

Was die kühle, intelligente Hofdame Charlotte von Stein, lange Zeit Goethes platonische große Liebe, über Christiane dachte, hat sie, taktvoll wie immer, nicht öffentlich gemacht. Dass sie die Verbindung ihres Anbeters zu diesem drallen Mädchen aus dem Volke wurmte, lag auf der Hand. Zumal die auch noch so taktlos gewesen war, ihr erstes Kind ausgerechnet am Geburtstag der Frau von Stein zu bekommen!

Goethe, in der Jungfrau geboren und entsprechend kühl kalkulierend, mag ein leidenschaftlicher Dichter gewesen sein – ein leidenschaftlicher Mann war er bestimmt nicht. Er verliebte sich ganz gern ein wenig hoffnungslos, denn da blieb er auf der sicheren Seite. (Psychologen nennen das ‚Bindungsscheu‘.) Den jungen Werther ließ er stellvertretend für sich sterben. Und die sieben Jahre ältere, verheiratete Frau von Stein konnte er schmerzlich und vergeblich lieben und eine Unmenge Briefe mit ihr tauschen – sie zum Durchbrennen zu überreden, war er nicht der Mann. Das wäre wohl auch beinah unmöglich gewesen.  Charlotte von Stein, (Steinbock), diszipliniert und beherrscht wie ihr dichtender Seelenpartner, baute ebenfalls auf Sicherheit. Und die lag gerade für sie nicht zuletzt in der Anerkennung der Gesellschaft.

Goethe blieb eben am liebsten vorsichtig. In einer Zeit, da sich nahezu alle sinnenfrohen Menschen mit der Syphilis infizierten, behielt er nicht nur einen kühlen Kopf, er schien auch andere Körperpartien unter Kontrolle zu haben. Offenbar ließ er sich auf seiner italienischen Reise zum ersten Mal die Zügel schießen und öffnete sein Herz und seine Culotte einer entzückenden Italienerin. Da war er bitte fast vierzig.

Mit dieser nagelneuen Erfahrung wieder zu Hause angekommen, begegnete er der 23jährigen Christiane Vulpius, die ihn bat, ihren dichtenden Bruder ein wenig zu protegieren. Demoiselle Vulpius war, wie von Frau Schiller angedeutet, wohlgerundet, fröhlich und sinnlich. Sie arbeitete in einer Art Hutfabrik, wo sie künstliche Blumen anfertigte. Nun wurde sie zu Goethes Haushälterin. In der nächsten Zeit ging mehrfach sein Bett kaputt, das zeigten den forschenden Literaturfreunden später entsprechende Rechnungen. Was wohl bedeutete, Goethe konnte anwenden, was er in Italien gelernt hatte.

Anderthalb Jahre später wurde der Geheimrat zum ersten Mal Vater – ohne das allerdings anzuerkennen. Immerhin ließ er Christiane weiter bei sich wohnen. Im Jahr darauf machte er dann auf einer Reise einer adligen jungen Dame, Henriette von Lüttwitz, einen Heiratsantrag,  den deren Vater ablehnte.

Und jetzt also, 57jährig, hatte er Christiane, diese Person, tatsächlich geheiratet. Weil sie sein Leben gerettet hatte. Und, vielleicht, weil ihm dabei klar geworden war, was sie für ihn bedeutete.

Am Tag nach der Hochzeit nahm er seine Frau zum ersten Mal mit in die ‚Gesellschaft‘. Für diesen Nachmittagsbesuch wählte er die richtige Gastgeberin aus: die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer. Das war die Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer. Sie wohnte noch nicht lange in Weimar und sie war offenbar ein kluger und weitherziger Mensch, denn sie verkündete hinterher: „Ich denke, wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, können wir ihr wohl eine Tasse Tee geben.“

Glücksfaktor: Unabhängigkeit.

 

 

 


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