Der 2. April ist der internationale Tag des Kinderbuchs. Seit mehr als fünfzig Jahren ist das so – und damit ehren wir auch den großen, den genialen Märchendichter Hans Christian Andersen. Und obwohl er Kindern mit Vergnügen seine Märchen vorlas (er bereitete ihnen auch gern eine Freude durch seine ganz speziellen aparten Scherenschnitte; die Schere dafür trug er ständig bei sich) fragt sich doch, ob er nicht beleidigt gewesen wäre, auf ‚Kinder‘ als Leser begrenzt zu werden.
Er stammte aus dürftigsten Verhältnissen. Sein Vater war ein verarmter Schuster, seine Mutter eine Wäscherin mit ausgeprägtem Alkoholproblem. Seine Großmutter wohnte in der Irrenanstalt, weil ihr Mann, also Andersens Großvater, nicht so ganz er selber war, etwas, das den übermäßig sensiblen kleinen Jungen ängstigte. Hans Christian war das einzige Kind und wurde, wie er später beschrieb, sehr verwöhnt. Wohl kaum mit irgendwelchen vorhandenen Gütern, aber offenbar mit viel Nachsicht und Zärtlichkeit.
Seine Familie, die Erwachsenen um ihn herum, beseufzten das Schicksal. Irgendwie hatten alle mal bessere Zeiten gesehen oder jedenfalls große Pläne gehabt, die sich zerschlugen, eine ausgesprochen deprimierte Grundstimmung: intelligente, vielleicht begabte Menschen ohne die Mittel, sich Bildung zu verschaffen und dadurch ihr Leben zu verbessern.
Der Junge spielte mit Puppen Komödien und Tragödien, die er sich selbst ausdachte. Er war verträumt und sonderbar: „Fromm und abergläubisch wuchs ich heran“. Einmal sammelte er auf einem Feld mit seiner Mutter und einigen Nachbarn Ähren – wie Jesus mit seinen Jüngern. Der Feldaufseher kam mit einer riesigen Peitsche angerannt, und die Erwachsenen türmten, während Andersen seine Holzschuhe verlor, auf den harten Stoppeln nicht weiterkam und allein zurückblieb. Der Mann packte ihn und hob die Peitsche, als das tapfere Kerlchen rief: „Wie darfst du mich schlagen, da Gott es sehen kann!“ Da wurde das böse Gesicht über ihm ganz milde, der Aufseher klopfte Hans Christian die Wange – und schenkte ihm Geld.
Andersen lebte in einer magischen Welt, und sie funktionierte. Man konnte Gott oder andere machtvolle Gestalten um Hilfe anrufen, die dann, weil er fest daran glaubte, auch gespendet wurde.
Nachdem sein Vater gestorben war, machte er sich, ganz wie eine Märchenfigur, auf, die Welt zu erobern. Er war vierzehn und sah grotesk aus. Lang aufgeschossen und knochig, mit riesigen Füßen, einem Gesicht, das überwiegend aus Nase bestand und langen, dünnen gelben Haaren bis auf die Schultern.
Er konnte lesen und schreiben, viel mehr nicht. Aber er war entschlossen, ganz groß rauszukommen. Wodurch – war einstweilen etwas unklar. Er war immerhin darauf gefasst, dass er zunächst ‚gewaltig viel Widerwärtiges durchzumachen habe‘, das schien die Regel zu sein. Doch dann würde der Ruhm kommen.
Seine Mutter, nicht völlig überzeugt von dieser Folgerichtigkeit, ließ eine alte Frau (aus der Anstalt) für ihren Sohn den Kaffeesatz lesen. Die konnte bestätigen, „Ihr Sohn wird ein großer Mann werden und ihm zu Ehre werden sie eines Tages Odense illuminieren.“
Nachdem das also feststand, durfte der Junge nach Kopenhagen, mit einem kleinen Kleiderbündel und als blinder Passagier in der Postkutsche (indem der Postillon ein bisschen bestochen wurde). In Seeland angekommen, kniete er hinter einem Schuppen am Strand, bat Gott, ihm zu helfen und ihn zu leiten und stand sehr getröstet auf.
Im September 1819 traf Hans Christian Andersen in Kopenhagen ein. Zunächst suchte er eine bekannte Tänzerin auf und machte sie damit vertraut, dass er weltberühmt zu werden gedachte. Der seltsame Jüngling musste sie sehr befremden, doch sie gestattete ihm eine kurze Demonstration seines Talents in ihrer Wohnung. Er bat höflich um Erlaubnis, seine Stiefel abzulegen, benutzte seinen Zylinder als Tamburin und hüpfte auf dem Teppich umher, zu seinem eigenen, sehr hohen Gesang (er hielt sich für einen Sopran) tanzend. Zwar rief sie nicht die Polizei, sah allerdings zu, dass sie den seltsamen Menschen rasch wieder los wurde.
Andersen kannte anfangs keine Seele in der Stadt, aber er schaffte es, zwei Jahre lang in Kopenhagen zu überleben. Immer noch trug er seinen inzwischen ausgewachsenen und an den falschen Stellen glänzenden Konfirmandenanzug und den zu großen Zylinder. Sehr selten durfte er als Statist im Theater mitmachen, manchmal gestattete man ihm eigene Auftritte in Privatwohnungen. Ein späterer Freund erzählte, er habe ihn zum ersten Mal gesehen im Salon eines reichen Kaufmanns, wo Andersen eigene Gedichte vortrug – was den Gästen ausdrücklich als Belustigung angekündigt wurde, als bizarrer Auftritt eines Narren. Doch kippte die Stimmung im Lauf der Lesung, der arme Irre rührte seine Zuhörer durch sein ehrliches Gefühl, mehr durch die Art des Vortrags als durch die Worte. Er scheint eine Art reiner Tor gewesen zu sein, naiv und arglos. Das beeindruckte immer wieder Menschen, die ihm weiterhalfen.
Bildung, wurde ihm oft gesagt, sei nötig, um weiterzukommen. Aber Bildung war teuer. Andersen hatte eine Idee: Er schrieb ein Trauerspiel, um durch das dadurch verdiente Geld eine Schule besuchen zu können und reichte das Stück beim königlichen Theater ein. Der Theaterdirektor, Jonas Collin, gab es als untauglich für die Bühne zurück – Andersen dachte über verschiedene Selbstmordmethoden nach – fügte jedoch hinzu, das Werk zeige trotzdem ein großes Talent. Er habe mit dem König über Andersen gesprochen und erreicht, ihm über einige Jahre eine Summe zu spenden und ihm Unterricht in einer Lateinschule zu verschaffen.
Der inzwischen sechzehnjährige Hans Christian saß nun in der vorletzten Klasse unter kleinen Knaben und wurde plötzlich konfrontiert mit Geographie, Mathematik und Grammatik (später mit Griechisch und Latein) sowie mit einem sardonischen Schulrektor, der es liebte, zu spotten und verbal zu vernichten. Das schüchterne, seltsame lange Elend kam ihm gerade recht. Andersen, der sich einerseits freute, endlich Bildung zu erhalten, sagte später, dies sei die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen. Mit Freundlichkeit, Lob und Ermutigung war er zu allem bereit und zu allem fähig. Ironie, Tadel und Kritik verwundeten ihn tiefer als andere Menschen, sie raubten ihm geradezu seine Lebenskraft.
Trotz allem war er ein ausgezeichneter Schüler. Er führte nur endlose Diskussionen mit dem Religionslehrer, weil er absolut nicht davon abzubringen war, dass Gott reine Liebe sei und sonst nichts …
Mit 23 Jahren machte Andersen sein Abitur und begann gleich ein Studium der Philosophie sowie der Sprach- und Literaturwissenschaft, schrieb nun auch ein Buch – das sich sehr gut verkaufte – und ein Theaterstück, das tatsächlich aufgeführt wurde.
Und schließlich begann er mit dem, worin sein größtes Talent lag: mit seinen Märchen, die im Zeitalter der Romantik wahrscheinlich eher als die Kunstwerke (für Erwachsene!) begriffen wurden, die sie waren. Während man heute einen Hans Christian Andersen oft in einen Topf wirft mit Volksmärchensammlern wie den Brüdern Grimm, wurde er damals bewundert für seinen verfeinerten, absolut raffinierten Stil und für die Lebensweisheit seiner Geschichten.
Er reiste ungewöhnlich viel für einen Menschen seiner Zeit, immer mit großem Lederkoffer und riesigem Regenschirm, in exotische Länder wie das Osmanische Reich, aber auch nach Spanien, Italien, Portugal und England. Am liebsten und am meisten nach Deutschland, das den Künstler übrigens mehr verehrte als jedes andere Land, Dänemark eingeschlossen.
Er erfuhr höchste gesellschaftliche Anerkennung, kannte andere Berühmtheiten und wurde dauernd in irgendwelche Schlösser eingeladen. Andererseits sah er seine Mutter nicht wieder und unterstützte sie auch nicht – sie starb im Armenhaus. Eine Stiefschwester bat ihn verschiedentlich um Geld (und sie war wirklich bedürftig) – er antwortete nicht. Vielleicht hatte er Angst, zurückzublicken in die dunkle Ecke, aus der er kam.
Wurde er glücklich? Darum hatte er Gott nicht gebeten. Auch nicht um erfüllte Liebe oder überhaupt Partnerschaft. Die Nachwelt streitet bis heute lebhaft darüber, ob der Dichter nun eigentlich homosexuell war oder nicht. Einige Experten wissen mit absoluter Sicherheit, dass ja und mit wem. Andere sind sich weniger sicher. Er vergötterte den jüngsten Sohn von Theaterdirektor Collin, Edvard, was diesem ein bisschen unheimlich war. Andererseits war Andersen verliebt in die Schwester eines Kommilitonen, Riborg. Doch die war bereits mit einem anderen verlobt. Hans Christian Andersen trug Riborgs Abschiedsbrief in einem Ledertäschchen auf der Brust bis zu seinem Tod. Er verehrte die schwedische Sängerin Jenny Lind und wartete einen unendlich langen, einsamen, traurigen Heiligabend umsonst auf sie, weil er irrtümlich meinte, sie wären fest verabredet gewesen.
Besonders viel Talent zum Glücklichsein besaß er nicht. Immer noch, als längst anerkannter und verehrter Künstler, konnte ihn ein Wort der Kritik buchstäblich derart krank machen, dass er sich zu Bett legen musste. Er war ein Hypochonder erster Ordnung, fortgesetzt mit seiner Gesundheit beschäftigt und die kleinste Unpässlichkeit im Tagebuch notierend. Er reiste stets mit einem soliden Strick, um notfalls bei Feueralarm aus dem Fenster flüchten zu können.
Auf jeden Fall wurde er genau das, was ihm am wichtigsten gewesen war: weltberühmt. Und in der Tat illuminierten, also beleuchteten, sie eines Tages ihm zu Ehren seine Vaterstadt Odense. Das machte ihn ohne Zweifel sehr glücklich – während er gleichzeitig an den entsetzlichsten Zahnschmerzen litt …
Glücksfaktor: Erfüllte Träume?