Oder zumindest den größten Teil davon.
Am 23. Oktober war sein Kollege Paul Gauguin zu ihm nach Arles in Südfrankreich gezogen. Vincent hatte sich das so nett gedacht: eine WG zweier Maler, die gemeinsam schöpferisch tätig sind und sich miteinander austauschen können. Er hatte extra Sonnenblumenbilder gemalt, um das Zimmer, in dem der Freund wohnen sollte, damit zu schmücken. Er war voller Vorfreude, endlich mal wieder.
Leider gestaltete sich das Zusammenleben weniger idyllisch als erhofft.
Vincent war leider exakt das, was man schwierig nennt. Er torkelte eigentlich andauernd von einer Komplikation zur nächsten. Er stritt mit nahezu jedem; nicht, weil er besonders streitlustig war. Eher, weil er nicht lügen konnte und sich häufig in seiner eigenen Wahrheit verhedderte. Sein großes Dilemma: Er war anders, anders als alle anderen. Er passte durchaus nicht in irgendeine Zeit, in irgendeine Gesellschaftsschicht, in irgendeine Realität. Das machte ihn selbst sehr unglücklich, doch er konnte nicht anders.
Was Paul Gaugin anging, so hatte Vincent sich vorgenommen, so umgänglich wie möglich zu sein. Doch er war zappelig und quaschte gern und Gaugin brauchte seine Ruhe – war abgesehen davon jedoch ebenso aufbrausend und jähzornig wie Van Gogh. Vielleicht hatte er sich sowieso nur auf das Wohnexperiment eingelassen, weil Vincents Bruder Theo ihm die Reisekosten erstattet und sowohl monatliche Geldbezüge als auch seelischen Beistand bei eventuellen Problemen mit Vincent zugesagt hatte.
Theo Van Gogh liebte seinen vier Jahre älteren Bruder, verstand ihn (und dazu gehörte wahrhaftig einiges; der geniale Mensch war schwer zu verstehen) und beschützte ihn. Er nahm Vaterstelle an dem Älteren ein.
Es hatte lange gedauert, bis Vincent wusste, welchen Beruf er ergreifen wollte. Er versuchte es mit Hilfslehrer, Pfarrer und Buchhändler, bis er sich für Kunstmaler entschied, und ohne Theos ständige Unterstützung wäre er vielleicht zum Obdachlosen geworden. Außerdem pflegte er sich in die falschen Frauen zu verlieben, Abweisungen zu kassieren und daran jahrelang zu leiden.
Als er fast dreißig war, fand er eine Gefährtin. Sien, einige Jahre älter als er, hatte eine kleine Tochter und war gerade wieder schwanger. Vincent nahm sie bei sich auf, bemühte sich, ihrer Tochter und dem kleinen Jungen, den sie bekam, ein Vater zu sein.
Sien saß Modell für sein berühmtes Bild ‚Sorrow‘, Sorge. Familie Van Gogh – von Theo abgesehen – war wenig angetan von dieser Beziehung, denn Sien war Prostituierte. (Sein Vater drohte, Vincent in ein Irrenhaus einweisen zu lassen.)
Beinah zwei Jahre lang waren sie vielleicht ein bisschen glücklich miteinander, dann trennten sie sich. Sien landete wieder auf der Straße und beging ungefähr zehn Jahre später Selbstmord, indem sie sich in einen Fluss warf und ertrank.
Irgendwie schien alles, was Vincent anfing, deprimierend zu enden. Zwei Jahre nach der traurigen Trennung von Sien verliebte er sich noch ein Mal. Margot war die Tochter eines Pfarrers aus der Nachbarschaft. Sie wollten heiraten – obwohl sie zwölf Jahre älter war als er. Aber ihre Schwestern fanden, dieser Vincent Van Gogh, unkonventionell, merkwürdig und vermögenslos, sei kein erwünschter Schwager. Sie bearbeiteten Margot derart, dass sie Strychnin schluckte: etwas zu wenig, um daran zu sterben, genug, um Vincent in die Flucht zu jagen. Er befürchtete, nur Unglück zu bringen.
Und weil ihm das Schicksal offenbar verbieten wollte, mit einer Frau glücklich zu werden, konzenterierte er sich jetzt auf diese berufliche Freundschaft mit Paul Gaugin.
Doch nach exakt zwei Monaten gab es, nachts, einen gewaltigen Streit zwischen den genialen, erfolglosen Malern. Was dabei passierte, wird bis zur Erfindung der Zeitmaschine ein Rätsel bleiben. Schnitt sich Vincent das Ohr ab – oder säbelte Gauguin es herunter? Der schilderte die Tat als Selbstverstümmelung (steht jedoch seitdem immer mal wieder in Verdacht, der Täter gewesen zu sein.)
Vincent selber behauptete später, sich an nichts erinnern zu können.
Zumindest war er gleich hinterher noch in der Lage gewesen, das entfernte Körperteil einer befreundeten Prostituierten in die Hand zu drücken mit der Bitte, es sorgsam zu verwahren. Die fiel daraufhin, verständlicherweise, erstmal in Ohnmacht.
Morgens fand man Vincent, halbtot nach dem Blutverlust, in seinem Bett.
Sein WG-Freund war spontan ausgezogen und nach Paris zurückgekehrt, um doch lieber dort Weihnachten zu feiern.
Vincent Van Gogh lebte mit anderthalb Ohren noch anderthalb Jahre weiter und kam vorübergehend, wie sein Vater mal angestrebt hatte, in die Nervenheilanstalt, wo er mit eiskalten Wassergüssen soweit kuriert werden konnte, dass er weitermalte, Bild um Bild. Er hinterließ ungefähr 860 Gemälde und mehr als 1000 Zeichnungen. Er verkaufte zu Lebzeiten kaum ein Gemälde, konnte jedoch verschiedentlich eins eintauschen.
Sein (bis jetzt) teuerstes, der Blick aus dem Fenster der Irrenanstalt auf einen pflügenden Bauern, wurde bei Christies inzwischen für mehr als 81 Millionen Dollar verkauft …
Vincent beging vermutlich Selbstmord, indem er sich selbst in den Bauch schoss. Er starb, 37jährig, in den Armen seines Bruders, den man herbeigerufen hatte.
Theo Van Gogh organisierte fieberhaft und sehr verzweifelt die Beerdigung und eine Gedächtnisausstellung in seiner Wohnung. Seine Gesundheit war sowieso nicht bombig: Wahrscheinlich hatte er sich – da er, wie Vincent, gern zu Prostituierten ging – die Syphilis zugezogen. Er erlitt einen ‚geistigen Zusammenbruch‘, in dem er seine Frau und seinen kleinen Sohn, Vincent, bedrohte. (Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen dem Bruder gegenüber, weil er meinte, ihn wegen seiner eigenen Familie vernachlässigt zu haben.) Auch er kam in eine Nervenheilanstalt und starb dort im Alter von 33 Jahren, ziemlich genau ein halbes Jahr nach Vincent. Vielleicht meinte er, dass sein Bruder ihn im Jenseits brauchte …
Glücksfaktor: ein wenig Erfolg zu Lebzeiten.
Das wunderschöne Lied Vincent ist von Don McLean