Am 28. Juli 1912 knackste die Binzer Seebrücke auf Rügen ein


Sie war zehn Jahre vorher entstanden, 1902, eine schlanke Landungsbrücke in die Ostsee, an ihrem Ende in sechs Meter Wassertiefe stehend. So konnten auch größere, schwere Schiffe dort anlegen, Passagiere und Gepäck von- oder an Bord gelangen. Mehrere Laternen mit ganz moderner Elektrizität beleuchteten die Brücke.

Um ganz ehrlich zu sein – relativ kurz nach ihrem Entstehen, Im Dezember 1904, zerkaute ein Sturmhochwasser das stolze Bauwerk. Die Binzer holten tief Luft und bauten ihre Seebrücke neu. 1906 war sie wieder fertig. 

Das Jahr 1912 hatte im April noch einmal sehr deutlich gemacht, dass Wasser keine Balken hat: Als nämlich die Titanic sank. Was die Brücke im Seebad Binz auf Rügen anging, die hatte Balken, denn sie bestand ganz aus Holz, rund 590 Meter lang.

An diesem frühen, warmen Sonntagabend drängelten sich hier an die tausend Leute. Um 18:30 legte  der Dampfer Kronprinz Wilhelm an, ließ Passagiere von Bord und wollte gerade neue aufnehmen – als die Brücke an dieser Stelle trichterförmig einbrach. Ungefähr fünfzig Menschen rutschten mit Gekreisch nach unten, in das ziemlich tiefe Wasser. Siebzehn ertranken, der Rest wurde gerettet.

Die Anzahl der Deutschen, die mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts schwimmen konnten, war erstaunlich gering – ungefähr zwei bis drei  Prozent der Bevölkerung! Wer damals ins ‚Bad‘ fuhr, der wandelte am Rand der Brandung entlang, das war Erfrischung genug. Viele Seeleute übrigens verzichteten ganz bewusst darauf, schwimmen zu können; sie waren überzeugt davon, im Fall eines Schiffbruchs ihr Leiden unnötig zu verlängern, falls sie fähig wären, sich über Wasser zu halten.

Die meisten der ins Wasser Gefallenen konnten also nur schreien und zappeln.

Eine Augenzeugin  erzählte: „Es wurde als beschämend empfunden, dass kaum jemand bereit oder fähig war, zu retten oder Erste Hilfe zu leisten und Wiederbelebungsversuche zu machen.“

Ich möchte als wohltuend hinzufügen, dass auch keiner in der Lage war, mit dem Handy zu fotografieren oder zu filmen.

Einer, der etwas tun konnte und auch wollte, war ein junger Soldat aus Westfalen, der sich ein (nicht ganz erlaubtes) Wochenende auf Rügen gegönnt hatte. Richard Römer, damals 24 Jahre alt, stand auch auf der Seebrücke, die vor seinen Füßen einbrach. Seine Ehefrau Clementine hat später  geschildert, wie Römer hastig Mütze und Jacke (an der sein Säbel befestigt war) von sich warf und ins Wasser sprang. Schwimmen konnte er – Rettungsschwimmen allerdings war damals eine noch nicht erfundene Kunst. So tauchte er jeweils unter eine der ertrinkenden Personen, und ‚döppte‘ sie, um nicht von ihr umklammert und mit in die Tiefe gerissen zu werden, schwamm dann zu den Helfern an den eingestürzten Balken und übergab ihnen die oder den Geretteten. Mit 12 Menschen schaffte Richard Römer das. Als er versuchte, den 13. zu retten, musste er erst mal selbst gerettet werden, weil ihm inzwischen die Puste ausging.

Er bekam übrigens später von Kaiser Wilhelm nicht nur die Rettungsmedaille, sondern die Rettungsmedaille AM BANDE! Die konnte man sich praktischerweise an den Anzug pappen.

Darüber hinaus wurde Sergeant Römer erklärtermaßen zum ‚Vater der DLGR‘. Denn die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft gründete sich im folgenden Jahr, speziell bezogen auf dieses Unglück. Damit es nie wieder so passieren konnte, sollten 1. viel mehr Menschen lernen, zu schwimmen und sollte 2. eine Form gefunden werden, mit der Ertrinkende so zweckmäßig wie möglich aus dem Wasser gefischt werden könnten. Inzwischen ist die DLRG die größte freiwillige Wasserrettungsorganisation der Welt. 

So kam es, dass allmählich immer mehr Menschen lernten, sich selbst und notfalls andere über Wasser zu halten. 

Da nach dem ersten Weltkrieg nahezu jede Art von Begeisterung in die Knie gegangen war, schwand auch für eine Weile das begeisterte Schwimmen und Retten.

Mit der Nazi-Zeit nahm es dann gewaltig Aufschwung. Die deutsche Jugend bekam riesiges Interesse an Muskeln und Gemeinschaft. Hitler wünschte sich im September 1935 in einer flammenden Rede vor 50.000 Jungen (die Mädchen machten vermutlich inzwischen irgendwo sauber; vielleicht schrubbten sie ein Schwimmbecken): Germaniens Nachwuchs möge so flink sein wie Windhunde, so zäh wie Leder und so hart wie Kruppstahl. So wasserfest wie Gummi fügte er nicht ausdrücklich hinzu, aber das verstand sich ja irgendwie von selbst. 

Der Erfolg war enorm; jeder anständige deutsche Junge und ja, doch, auch die Mädchen, lernten nicht nur zu rennen und zu turnen, sondern auch zu schwimmen und tauchen und retten. 

Meine Mutter, immer tapfer gegen den Strom unterwegs, verweigerte damals ihre Mitwirkung, hielt Sport sowieso für ’naziartig‘ und antwortete auf die Frage, ob sie schwimmen könnte: „Hab ich blonde Zöpfe?!“

Inzwischen können über 80 Prozent der deutschen Bevölkerung schwimmen, und das ist erfreulich. Allerdings beherrschten Ende der 1980er Jahre sogar 90 Prozent diese Kunst. Es lässt sich also nicht leugnen, dass die Wasser-Sportlichkeit hierzulande ein wenig nachlässt. Die Jugend ist nicht mehr ganz so flink, zäh und hart wie sie mal war.

Deshalb kann man überhaupt nicht dankbar genug sein für den DLRG-Adler aus dem Logo der Gesellschaft, der wachsam unsere Strände beobachtet …

Glücksfaktor: nicht unterzugehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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