Gut, und was ist Saudade?
Die brasilianische Art von süßer Wehmut, schmerzliche-angenehmem Sehnen, wohliger Melancholie, tiefdunkler Samt, zartbitterer Honig. Saudade ist ein Gefühl, das es auch anderswo gibt – aber nirgends mit dieser anmutigen Sinnlichkeit wie in Brasilien.
Als mein Vater ein sehr junger Mann war, hatte er eine Ausbildung zum Hotelfachmann begonnen (arbeitete jedoch trotzdem nebenher schon als Journalist und Schriftsteller).
Anfang 1929 fuhr er mit dem Passagier-Dampfer Cap Arcona nach Buenos Aires in Argentinien, um dort einen großartigen neuen Job in einem Hotel anzutreten. Er hatte vorher ein halbes Jahr lang Spanisch gepaukt. Kaum war er angekommen, erfuhr er, dass er bei nächster Gelegenheit lieber in ein anderes Hotel gehen könnte, weit weg, in Bahia. Und er begann auf der Stelle, Portugiesisch zu lernen. Diese weiche Katzensprache mit den vielen aauu- und aoou-Tönen beherrschte er nie vollendet, doch gut genug, um fast vier Jahre lang in Brasilien zu bleiben und sich hoffnungslos in das Land zu verlieben – und in eine rassige Teresa.
Obwohl er Zeitungen las und im Kino die Wochenschau sah, war ihm nicht so ganz richtig klar, was inzwischen in Deutschland lief, denn er kam ausgerechnet Ende 1933 zurück. (Mit Teresa war es nicht gut ausgegangen.)
In Berlin arbeitete er sofort als Journalist, konnte, wie stets, seine Klappe nicht halten und fing eine Prügelei mit mehreren SA-Männern an. Worauf er seinen ersten Winter in der Heimat im nagelneuen Konzentrationslager Oranienburg verbringen durfte, in Gemeinschaft mit anderen ‚politischen Gefangenen‘ und Homosexuellen. Da hatte er echt brasilianische Saudade.
Nach einigen Monaten ließen sie ihn frei – das ging damals noch – und er überlebte ja sogar den Krieg und wurde eine ganze Weile später mein Vater.
Ende der 50er reiste er zum zweiten Mal nach Brasilien, zusammen mit einem Kameramann und diesmal in einem Flugzeug. Er produzierte dort einen Dokumentarfilm über Kakao und einen über Kaffee, blieb zweieinhalb Monate lang und frischte seine alte Liebe auf. Ob auch die zu Teresa, weiß ich nicht.
Als er zu meiner Mutter und mir nach Hause kam, brachte er viel mit. Mir ein rabenschwarzes Puppenpaar, Rapazes und Querida (das Mädchen mit buntem Turban), meiner Mutter Mate samt einer rotbraunen Cocuja, dem Trinkgefäß aus Kokosnussschale, dazu die Bombilla, ein silberner Trinkhalm mit Sieb am Fuß – und sich selbst einige Schallplatten. Die spielte er mir oft vor, während er von Brasilien erzählte, und für mich ist die Musik ganz mit ihm verknüpft. Vor allem und am meisten hörten wir ein Lied von Dorival Caymmi: Saudade da Bahia, Sehnsucht nach Bahia. Damals sagte mein Vater oft, wenn ich groß bin, würden wir gemeinsam dort hin fliegen und er würde mir alles zeigen.
Glücksfaktor: Erinnerung. Gern auch wehmütige.