Annie, nimm deine Flinte!


Am 16. Mai 1946 hatte das Musical ‚Annie Get Your Gun‘ in New York Premiere. Es geht darin um die Wildwest-Kunstschützin Annie Oakley, eine Frau, die tatsächlich existierte.

Die wirkliche Annie war allerdings noch zierlicher als die auf dem Plakat: kaum 1.52 in Stiefelchen. An der Länge der Flinte erkennt man die Kürze der Annie. Sie besaß klare hellbraune Augen und einen Wasserfall dunkelblonder Locken.

Miss Oakley durchlitt eine teilweise recht schmerzliche Kindheit. Sie wurde 1860 in Ohio geboren (das ist zwar nur Mittlerer Westen – fühlte sich aber damals genau wie Wilder Westen an), in einer bescheidenen Blockhütte in ärmlichen Verhältnissen, als fünftes Kind. Nachdem ihr Vater noch drei weitere Geschwister angefertigt hatte, starb er – da war Annie sechs Jahre alt. 

Nun saß ihre Mutter mit acht Kindern in der Wildnis, mit ein wenig zu bearbeitendem Pachtland rundherum. Sie befand sich eben in keinem umsorgenden Sozialstaat, sondern im Wilden Westen.

Also gab sie ihre fünf älteren Kinder auf eine Armenfarm, wo sie Kinderarbeit verrichten mussten. Ausgerechnet die Jüngste wurde in eine Farmerfamilie ‚ausgeliehen‘, um noch mehr zu schuften. Annie beschrieb es später als schiere Sklaverei; sie hätte nicht nur von früh bis spät arbeiten müssen, sie sei auch ständig misshandelt und gedemütigt und bei klirrender Kälte barfuß in den Schnee gejagt worden. Sie sprach von dieser Familie  immer als von einem ‚Pack Wölfe‘.

Glücklicherweised heiratete ihre Mutter wieder, und Annie durfte zur Familie zurückkommen. So richtig begütert war ihr Stiefvater jedoch auch nicht, er musste eine Hypothek auf seine Farm abstottern. Da zeigte es sich, dass Annie über ein ganz spezielles Talent verfügte: Sie konnte meisterhaft schießen. Das hatte sie sich bereits als Fünfjähre mit dem alten Gewehr ihres Vaters selber beigebracht.

(Man möge sich eine Fünfjähre vorstellen, die mit einer Knarre, ungefähr das Doppelte ihrer eigenen Länge, herumhantiert, um sich selbst das Schießen beizubringen. Offenbar rief niemand: „Gotteswillen, Schätzchen, leg sofort das Ding weg!“ Man befand sich halt im Wilden Westen.)

Annie jagte Kaninchen und anderes Kleingetier für den häuslichen Kochtopf – doch bald auch größeres Wild für Lebensmittelläden, Hotels und Restaurants. Mit ungefähr acht Jahren verdiente sie bereits so viel, dass sie zur Haupternährerin der großen Familie wurde. Als sie dreizehn war, konnte man dank ihrer Einkünfte die Hypothek abbezahlen.

Das Mädchen nahm auch an Schießwettbewerben teil und verblüffte mit ihrer unglaublichen Fähigkeit, auf jede beliebige Entfernung das kleinste Ziel zu treffen, selbst, wenn es sich bewegte. Annie, genau wie Wilhelm Tell oder Old Surehand, verfehlte grundsätzlich kein Ziel. Nie. 

Bei einem dieser Wettschießen, 1875, begegnete sie ihrem Schicksal. Das war drei Köpfe größer und ungefähr zehn Jahre älter, bekannter Kunstschütze und Hundetrainer, ein Ire mit länglich geschnittenen hellblauen Augen, humorvoll, warmherzig und auf den ersten Blick in Annie verknallt: Frank E. Butler. Sie besiegte den Mann in verschiedenen Disziplinen – sie besiegte, was das Schießen anging, nunmal jeden. Er schien ihr das jedoch (ganz anders als später im Musical dargestellt) in keiner Weise übel zu nehmen, im Gegenteil, er bewunderte ihre Fähigkeit.

Die Begeisterung war gegenseitig. Die fünfzehnjährige Annie hatte ihre große Liebe getroffen und wollte nie einen anderen. Frank musste sich nur von seiner aktuellen Ehefrau scheiden lassen, und das tat er. Sobald das erledigt war, heirateten die beiden. Kinder bekamen sie nie, aber sie hatten eine Menge netter Hunde.

Annie wurde der erste weibliche Superstar der amerikanischen Pop-Kultur und nach einigen Jahren international berühmt. Sie trat in Buffalo Bills Wildwest-Show auf, in selbstgeschneiderten Kostümen mit, für die damalige Mode, relativ kurzen Röcken, um sich besser bewegen zu können. Sie achtete allerdings empfindlich darauf, in ihrer Erscheinung ‚weiblich‘ zu bleiben und ein zurückhaltendes, damenhaftes Wesen zu zeigen. In ihrer Gegenwart wagte niemand zu fluchen. 

Die schießenden Butlers gingen sogar auf Europa-Tournee und zeigten ihr Können vor Zuschauern wie Queen Victoria, Oscar Wilde, dem russischen Zaren und dem König von Italien. Das Ehepaar demonstrierte nicht nur seine Schießkünste, sondern auch Franks Hundedressur-Nummern. Außerdem trat Annie als Kunstreiterin auf. Frank schrieb Artikel und Pressemitteilungen über seine Frau. Nebenbei brachte er ihr Lesen und Schreiben bei. Er wurde mit der Zeit  mehr und mehr zu ihrem Manager, allenfalls warf er, als Assistent, kleine Glaskugeln in die Luft, die sie treffen musste. Es existiert ein uraltes Stückchen Film im Internet, das zeigt, wie Annie jede Glaskugel trifft – und trifft – und trifft. Ihr beim Schießen zuzusehen ist ungefähr so aufregend, wie den FC Bayern beim Siegen zu betrachten. Irgendwie fehlt der Reiz.

Immerhin schoß sie, sagt die Legende, dem deutschen Kaiser Wilhelm eine Zigarette aus dem Mund. Nach Ausbruch des ersten Weltkriegs schrieb sie ihm einen Brief und bat darum, noch einmal auf ihn schießen zu dürfen. (Er soll nicht geantwortet haben …)

Annie und Frank führten eine ungewöhnlich glückliche Ehe. Als sie am 3. November 1926 starb, stellte er das Essen ein und folgte ihr am 21. November – Todesursache: Unterernährung.

Ja, und dann entstand also dieses Musical über die beiden, zwanzig Jahre später. Es ist reizend, amüsant und enthält meiner bescheidenen Meinung nach bedeutend bessere Songs als solche Sachen wie Der König der Löwen, Das Phanton der Oper oder Cats.

Trotzdem finde ich es ärgerlich. Es verdreht nämlich die Geschichte einer offenbar auf angenehmste Weise funktionierenden Partnerschaft, in der ein Mann es – damals! – nicht nötig hatte, auf seine in manchen Beziehungen tüchtigere oder geschicktere Gefährtin eifersüchtig zu sein, der sogar stolz auf sie war und es nicht verschmähte, auf der Bühne für sie den kleinen Assistenten zu geben – ins genaue Gegenteil.

Der Anfang des Stückes entspricht den Tatsachen: Annie ist ein harmloses Landei, das halt, mehr oder weniger aus Versehen, grandios schießen kann, und sie besiegt den bekannten Kunstschützen Frank Butler. Auf der Musicalbühne jedoch reagiert der bereits ziemlich sauer. Es entsteht ein höchst gespanntes Konkurrenzverhältnis. Eins der nettesten und witzigsten Lieder aus ‚Annie, Get Your Gun!‘ heißt ‚Anything you can do, I can do better‘ und zeigt, wie sehr Annie und Frank versuchen, sich in jeder Beziehung gegenseitig zu übertrumpfen.

Damit es zum Happy-End kommen kann, erbarmt sich der alte Häuptling Sitting Bull (der tatsächlich eine Weile in Buffalo Bill’s Wild-West-Show auftrat, also ein Kollege von Frank und Annie war und die junge Frau ganz besonders schätzte). Im Musical gibt er ihr den weisen Tipp, mal daneben zu schießen und Frank gewinnen zu lassen. Das tut sie auch – und alles wird gut. Moral: Lass deinen Mann nie merken, dass du besser bist als er.

Glücksfaktor: Eine Partnerschaft, in der man sich gegenseitig wertschätzt und respektiert …


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