Bens Geschichte


 

Es  war einmal ein netter Hund mit Schlappohren, der hieß Ben. An einem Oktobertag, als Ben fünf Jahre alt war, schnallte sein Herrchen ihm das Halsband um, legte ihm die Leine an und setzte ihn ins Auto. Das taten sie immer, wenn es einen längeren Spaziergang geben sollte.

Ben hätte sich normalerweise gefreut – er ging schrecklich gern spazieren – doch er merkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Herrchen sah ihn nicht an, sprach nicht mit ihm, war ganz anders als gewöhnlich. Ben traute sich nicht, zu wedeln oder ein erfreutes Gesicht zu machen. Er bekam ein wenig Angst.

Nach einer längeren Fahrt hielten sie an. Ben durfte aus dem Wagen springen und sie liefen neben einem Waldstück in die Nähe einer sehr breiten, sehr lauten Autostraße. Hier band Herrchen die Leine an einen dünnen jungen Baum. Er drehte sich um und ging, ohne Ben noch einmal den Kopf zu streicheln oder etwas zu sagen, zum Beispiel: „Feiner Junge!“ Und er blickte nicht zurück. Ben schaute ihm sorgenvoll nach. Stunde um Stunde blickte er immer in die Richtung, in die Herrchen verschwunden war und aus der er hoffentlich wieder auftauchen würde. Schließlich fingen Bens Beine an, vom langen Stehen zu zittern, und er setzte sich mit einem Seufzer hin.

Er versuchte, ruhig zu bleiben, während er wartete, doch er konnte nicht verhindern, dass er vor Anspannung zu hecheln begann. Alle paar Minuten leckte er sich nervös über die Schnauze, dann hechelte er weiter. Nachdem es dunkel geworden war, legte er sich auf die Erde, den Kopf auf den Pfoten, und starrte immer noch, im Finstern, in dieselbe Richtung.

Als es wieder hell wurde, merkte er, dass er doch ein wenig geschlafen hatte. Er ging beiseite, so weit es die Leine zuließ, um sich zu erleichtern, dann setzte er sich wieder unter das Bäumchen. Ben hatte großen Hunger und noch größeren Durst. Er leckte vorsichtig den Tau vom Gras. Und dann nahm er seine eigentliche Aufgabe wieder auf: er wartete.

Schließlich hörte er Stimmen und Schritte. Nicht Herrchen – aber Menschen.

„Hier, bei der Böschung soll einer sein – guck mal, da, Chrissi!“, sagte der eine Mensch. Der andere war ein Weibchen. Es rief: „Stimmt, da ist der arme Kerl festgebunden. Klar, Herbstferien. Mit jedem Ferienbeginn hängen irgendwo ein paar Hunde im Gebüsch. Ich fasse es nicht … Hier, mein Alter!“

Sie kniete neben Ben und füllte Wasser aus einer Flasche in einen silbernen Napf. Ben schlabberte dankbar – aber nicht zu viel. Dann guckte er angespannt um die beiden Menschen herum – hinter denen musste jetzt doch Herrchen kommen?

Sie banden ihn los und zogen ihn hinter sich her zu ihrem Auto.

Ben wurde in ein Gefängnis gebracht. Er teilte seine Zelle mit einem Pudel und einem Terrier-Mischling, er bekam zweimal am Tag Futter – einmal trockene kleine Klümpchen und einmal gutes feuchtes Futter, beides sehr schmackhaft, besser, als er je gehabt hatte. Er wurde nicht geschlagen, sondern viel gestreichelt. Ein anderer Mensch hatte ihn untersucht und festgestellt: „Der ist nicht sehr gut behandelt worden. Die rechte Vorderpfote hat man ihm auch mal gebrochen. Er ist zu mager, selbst, wenn er da ein paar Tage festgesessen hat. Das Fell sieht wenig gepflegt aus, die Ohren sind eine Katastrophe. Eigentlich kann er froh sein, dass er den oder die Besitzer los ist. Ich wünsche ihm, dass er was Besseres findet!“

Ben jedoch schaute immer auf die Tür im Gefängsnisflur. Er wartete.

Das Menschenweibchen, Chrissi, ging jeden Vormittag und jeden Nachmittag mit ihm  spazieren. Manchmal richtig lange. Sie warf ihm Stöckchen zum Bringen. Ben tat so, als ob  er das nicht merkte. Sie gab ihm zwischendurch Leckerlis, sie streichelte seinen Kopf und seine Ohren und sie redete viel mit ihm. Sie sagte natürlich nicht Ben – sie nannte ihn Puck. Ben zeigte nicht, ob er zuhörte oder verstand. Er schaute Chrissi nicht ins Gesicht. Seine Augen suchten am Horizont, auf der anderen Straßenseite.

So vergingen zwei Monate. Eines Tages, kurz vor Weihnachten, kam eine Familie ins Gefängsnis, Vater, Mutter und zwei mittelkurze Menschenwelpen. Sie guckten sich überall um, streichelten einige der Hunde und betrachteten sie von allen Seiten. Der kleinere Junge zog Ben heftig  und schmerzhaft an einem seiner Schlappohren. Das weckte eine unschöne Erinnerung. In der letzten Zeit, bevor sein Herrchen ihn ausgesetzt hatte, war immer öfter ein Menschenweibchen im Haus gewesen mit einem Menschenwelpen, der Ben ebenfalls an den Ohren gezogen hatte.

Ben knurrte tief und grollend. „Ach du meine Güte, was für ein böser Hund!“, rief die Familienmutter erschrocken. „Den nehmen wir bestimmt nicht!“

„Der ist auch nichts für Sie. Der gehört schon jemandem“, erklärte Chrissi kurz.

Die Familie ging schließlich mit dem Pudel weg.

„So, Puck, heute nehme ich dich mit nach Hause“, sagte Chrissi am Abend. „Ich hab nicht gelogen. Du bist jetzt mein Hund. Was meinst du dazu?“

Ben dachte darüber nach. Ben stieg in Chrissis kleines Auto und dachte immer noch nach. Als sie vor einem kleinen Haus mit einem großen Garten hielten und Chrissi ihrem Hund  die Autotür aufhielt, begann er, ein wenig zu wedeln. Und dann sprang Puck aus dem Auto und in den Garten.

 

 

 

 

 


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert