Das legendäre Köln Concert


wurde am 24. Januar 1975 auf einem Klavier gespielt – und zwar auf dem falschen.

Mich selbst berührt es erinnerungsschwanger. Damals hatte ich Liebeskummer, und meine Freundin Mute, die sich ebenfalls in diesem Zustand befand, brachte mir die Platte mit dem Köln Concert, eine Flasche Wein und die Überzeugung, beides würde uns weiterhelfen. Ich bin bis jetzt nicht ganz sicher, ob es unbedingt diesem Zweck diente. Doch auf jeden Fall gefiel die Musik mir sehr. Ich habe das Konzert in dieser Zeit so unendlich oft gehört, dass es mir immer noch sehr vertraut ist und mir eine ganz bestimmte Stimmung zurückbringt, vergilbt inzwischen und weniger tragisch.

Der amerikanische Pianist Keith Jarrett spielte seine Soloimprovisation in der Kölner Oper, ein Konzert das, gelinde gesagt, nicht wenigen Leuten gefiel. Tatsächlich wurde daraus, auf Vinyl gepresst, die bekannteste und meistverkaufte Veröffentlichung von Keith Jarrett und nebenbei die meistverkaufte Klavier-Solo-Platte sowie die meistverkaufte Jazz-Soloplatte aller Zeiten (bis jetzt).

Man könnte also denken, dass der Pianist stolz drauf ist. Doch er wird nur ungern darauf angesprochen. 1992 sagte er in einem Interview, er wünschte, dass alle Exemplare dieser Platte eingestampft würden, weil die Hörer nur süchtig an Vergangenem hängenblieben.

Manchmal ödet es einen Kunstschaffenden halt an, immer nur für ein (weit zurückliegendes) Werk gelobt zu werden, anstatt Bewunderung für Aktuelles zu ernten. 

Aber vielleicht wird Jarrett auch einfach nicht gern an diesen grausamen Abend erinnert, an dem zunächst alles schief lief, was nur schief laufen konnte.

Er selbst war damals 29, die Veranstalterin des Konzerts, Vera Brandes, ging in Köln noch zur Schule und war erst achtzehn.Trotzdem organisierte sie, clever und musikbegeistert, bereits seit drei Jahren erfolgreich Jazzkonzerte.

Die Missgeschicke begannen, indem Jarrett aus Zürich nicht, wie geplant, mit dem Flugzeug kam. Stattdessen ließ er sich das Geld fürs Flugticket auszahlen und fuhr mit einem altersschwachen R4 die 570 Kilometer nach Köln. Er erreichte die Oper am Offenbachplatz am Spätnachmittag, erschöpft und hungrig.

Der Pianist hatte er um einen ganz bestimmten Konzertflügel gebeten und den hatte man ihm auch zugesichert: den Bösendorfer Imperial, ein Klangwunder aus Österreich. 

Der stand nun auf der Bühne und wartete auf seine große Stunde und auf den Künstler. Der Künstler schlug einige Töne an, umwanderte den Flügel und bemerkte trocken, auf dem Ding werde er bestimmt kein Konzert geben, man möge alles absagen.

Später stellte sich heraus, dass es sich bei dem Instrument zwar um einen Bösendorfer, aber um ein altes Exemplar handelte, das normalerweise für Proben benutzt wurde. Die Pedale hakten, die schwarzen Tasten in der Mitte klemmten, dafür verweigerten sich die oberen und die unteren Oktaven. Es waren sogar einige Saiten gerissen. Weil das Konzert an einem Freitagabend veranstaltet wurde, befand sich zudem die Opernverwaltung im Wochenende; niemand konnte helfen. 

Vera Brandes erfuhr erst am Montag darauf, dass es im Opernhaus sehr wohl den ‚richtigen‘ Flügel gab. Der stand hinter einer Brandschutztür versteckt, weshalb man aus Versehen den ‚falschen‘ auf die Bühne gestellt hatte.

Keith Jarrett meinte seine Absage sehr ernst. Er saß bereits im Wagen, der ihn vom Hof fahren sollte, als die Veranstalterin hinterher rannte, die Autotür aufriss und ihn mit jeder englischen Vokabel, die ihr zum Thema einfiel, bepladderte und anflehte, zu bleiben und zu spielen. Schließlich knurrte er: „Na gut, ich spiele. Aber nur deinetwegen!“

Das wussten die etwa 1400 begeisterten, erwartungsvollen Zuhörer (das Konzert war ausverkauft) glücklicherweise nicht.

Ein Klavierstimmer bemühte sich in aller Eile noch, an dem kranken alten Gaul von Flügel so viel wie möglich heil zu machen, um halbwegs bespielbar zu sein und jedenfalls die kaputten Saiten zu erneuern, während der Künstler sein viel zu spät gekommenes Essen verdrückte.

Und dann ging es los.

Jarrett nahm zu Anfang die kleine Melodie des Pausengongs der Kölner Oper auf – im Publikum ist ein bisschen unterdrücktes Lachen zu hören – umschnörkelte den Klang und ließ sich selbst und den Zuhörern mehr und mehr die Zügel frei.

Er musste sich dem Instrument so gut wie möglich anpassen, indem er sich auf mittlere und tiefe Tonlagen beschränkte und sich auf die unzureichenden Pedale einließ. Er war zwar gereizt, übermüdet, ärgerlich – aber auch genial. Sehr schnell übernahm die Musik und riss sowohl den Pianisten als auch  das Publikum mit. Keith Jarrett schien sich  geradezu in Trance zu spielen, gab ab und zu halblaute Ausrufe dazu.

Die Veranstalterin sagte darüber, der Flügel sei für den Raum natürlich ‚komplett unterdimensioniert‘ gewesen, das habe andererseits zu einer besonders hohen Aufmerksamkeit im Publikum geführt. Und Jarrett habe sich bemüht, rauszuholen, was rauszuholen war. Einerseits musste er mit besonderer Kraft auf die Tasten hauen. Andererseits kam eine überraschend zarte Sache dabei heraus. Die Zuhörer waren verzaubert, eine ungeheuer positive Spannung im Saal, Magie. 

Dieser Zauber ist auf der Platte gespeichert. Ursprünglich hätte das Improvisationskonzert überhaupt nicht aufgenommen werden sollen. Die Tontechniker schnitten es zunächst nur für interne Zwecke mit. Ein wenig später kauften auch Menschen das Köln Concert, die sich normalerweise nicht das Geringste aus Jazz machten.

Diese Musik umgrenzt eine kleine Zeit. Vier oder fünf Jahre lang kannte jeder das Köln Concert, das schlichte weiße Platten-Cover stand in allen Regalen oder neben dem Plattenspieler. Für mich verbindet sich damit meine damalige Wohnungseinrichtung in Beige und Mittelbraun, der Blick aus einem Fenster auf die Straße in schräger Nachmittagssonne, der Duft nach Eau Fleurie. Und ein Schmerz, der längst verblasst ist …

Glücksfaktor: In jeder Lebenslage das Beste draus zu machen.

 

 


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