Der Ball der Herzogin von Richmond fand am 15. Juni statt


Manchmal wirkt es so, als sei ein ganzes Schicksal, ein gesamtes Leben auf einen einzigen Punkt konzentriert. Bei Herzogin Charlotte von Richmond scheint es so gewesen zu sein. Wer ihren Namen nennt, der erwähnt unabdingbar auch den Ball, den sie am 15. Juni 1815 gab. Eine britische Historikerin hat ihn nicht zu Unrecht den berühmtesten Ball in der Weltgeschichte genannt.

Ungefähr hundert Tage zuvor war Napoleon Bonaparte gerade aus seiner Verbannung von der Insel Elba ausgekniffen und strebte jetzt, auf dem Weg nach Paris, erneut die Herrschaft an. Der Bourbone Ludwig XVIII. hatte anfangs noch behauptet, er werde lieber an der Spitze seiner Armee sterben, als aus Paris zu fliehen. Am 19. März allerdings, als Napoleon immer näher rückte, ließ Ludwig – ohne seinen Ministern einen Piep zu sagen – klammheimlich den Thron im Stich, packte ein paar Sachen und sah zu, dass er sich rettete.

Interessant sind die Schlagzeilen der damals größten Pariser Tagenszeitung Le Moniteur. Gleich nach Napoleons Flucht Ende Februar lauteten sie: Der Menschenfresser ist aus seinem Versteck gekommen. Und einige Tage später: Der Tiger gelangte bis nach Gap. Inzwischen bewegte Napoleon sich unaufhaltsam auf seine ehemalige Hauptstadt zu, und auf seinem Weg sammelte er ein Heer, das ständig anwuchs. Viele Streitkräfte, die ihn aufhalten sollten, liefen stattdessen zu ihm über. Mitte März titelte Le Moniteur: Der Tyrann durchquerte Lyon. Einige Tage später: Bonaparte macht große Fortschritte. Zwei Tage darauf: Der Kaiser kam in Fontainebleau an. Und am 21. März: Seine kaiserliche Majestät traf gestern im Château des Tuileries inmitten seiner treuen Untertanen ein.

Eigentlich waren seine Bezwinger seit fast einem Jahr auf dem Wiener Kongress damit beschäftigt, alles wieder auseinander zu sortieren und gerecht zu verteilen, was der korsische Eroberer und Kaiser von eigenen Gnaden im Lauf seiner Siege an sich gerafft hatte. Sie legten neue Grenzen fest und schufen neue Staaten – und sie tanzten. Denn um sich nicht totzuarbeiten und die illustren Gäste (Herrscher von halb Europa mitsamt dem Zaren von Russland) bei Laune zu halten, veranstaltete der Gastgeber, Graf von Metternich, haufenweise schillernde Bälle und gesellschaftliche Ereignisse jeder Art. Er präsentierte Österreichs ganzen Charme. Die Historiker streiten immer noch darüber, ob bei all den Vergnügungen eigentlich noch ernsthaft gearbeitet wurde. (Am 9. Juni 1815 hatte man immerhin eine Kongressakte fertig bekommen, mit sämtlichen geschlossenen Verträgen und furchtbar vielen Unterschriften.)

Auf jeden Fall wurden die Herrschaften aus ihrem Tun, welcher Art auch immer, harsch aufgestört durch den Ex- und schon wieder Kaiser. Sicherlich war es ein unangenehmer Gedanke, dass nun die gesamten Verhandlungen und Abmachungen des vergangenen Jahres für den Eimer waren, weil Napoleon sich einfach erneut den Kontinent mit einem Happs einverleiben würde.

Sie bildeten eine Allianz, die aus England und den Niederlanden, Österreich, Russland, dem Königreich Hannover sowie den Herzogtümern Braunschweig und Nassau bestand. Dazu gesellte sich das Königreich Preußen unter dem legendären Generalfeldmarschall von Blücher, den man bewundernd ‚General Vorwärts‘ nannte. (Mein Großvater pflegte noch den Spruch zu gebrauchen, da geht einer „ran wie Blücher“.)

Aber was hat das alles mit der Herzogin von Richmond zu tun?

Ihr berühmter Ball fand in Brüssel statt, denn ihr Gatte Charles, vierter Herzog von Richmond, sollte diese Stadt, damals noch zu den Niederlanden gehörend, verteidigen. Nun könnte man ja denken, bevor es in die Schlacht und womöglich in den Tod ging, wollten Napoleons Feinde einfach noch mal so richtig auf den Pudding hauen. Aber das ist nicht ganz richtig. Von den gut 224 Gästen waren drei Viertel Herren und ein Viertel Damen. (Was ich persönlich übrigens für eine gute Quote halten würde.) Und obwohl man gewiss auch tanzte, wurde vor allem – geredet. Der Herzog von Wellington beispielsweise, der im Kampf gegen Napoleon den Oberbefehl besaß, hatte seinen Mitstreitern eine Menge zu sagen.

Außer ihm befanden sich viele andere prominente Gäste auf dem Ball. Etwa der spätere niederländische König, Prinz Wilhelm, und noch so einiges an Herzögen und Fürsten: nahezu alle hohen Offiziere der gegen Napoleon zusammengezogenen Armee. Vor allem jedoch ein besonders faszinierender, bewunderter Held, Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel, den man den ‚Schwarzen Herzog‘ nannte.

Der Schwarze Herzog hatte neben den allgemeinen noch einige persönlichen Gründe, Napoleon nicht so recht leiden zu können. Erstens war sein Vater in der Schlacht bei Auerstedt 1806 von französischen Soldaten tödlich verwundet worden. Zweitens hatte Napoleon das Fürstentum Braunschweig 1807 für erloschen erklärt, das Land zum neu geschaffenem Königreich Westphalen dazugeknetet und seinen kleinen Bruder Jerome dort zum König gemacht. Friedrich Wilhelm von Braunschweig konnte sehen, wo er blieb.

Er blieb in Preußen und suchte nach Verbündeten für einen deutschen Volksaufstand gegen die französische Besetzung. Dazu tat er sich vor allem mit Engländern und Österreichern zusammen. Und er gründete ein Freikorps. Im Frühling 1809 gehörten dazu bereits 2300 Mann. Friedrich Wilhelm steckte seine Soldaten in schwarze Uniformen, ursprünglich noch wegen der Trauer um seinen Vater. Der Wahlspruch der Schwarzen Schar lautete: Sieg oder Tod! und sie kämpften entsprechend. Dieses Heer wurde schnell romantisiert, angeschwärmt und in Liedern gepriesen, nicht nur in Deutschland. Die Engländer nannten sie ‚Black Brunswickers‘ und sogar Lord Byron bedichtete die schneidige Truppe ein wenig in seinem ‚Childe Harold‘.

Der schwarze Herzog übrigens fiel einen Tag später, am 16. Juni 1815, in der ersten Schlacht gegen seinen Erzfeind Napoleon. Denn noch bevor der Ball der Herzogin von Richmond zuende war, erhielt Wellington einige Depeschen, in denen stand, dass bereits Scharmützel zwischen den mit ihm verbündeten Truppen und dem französischen Heer stattfanden.

Die Schlacht, die Europas Schicksal entscheiden würde, wütete bei einem kleinen Ort ungefähr 15 Kilometer südlich von Brüssel, Waterloo. Der Name wurde sprichwörtlich für eine totale Niederlage, wie sie Napoleon hier erlebte.

Die Legende um den Ball der Herzogin lebte lange. Drei englische Künstler schufen Jahrzehnte später Gemälde, die ihn zeigen oder damit im Zusammenhang stehen.

Da ist zunächst ‚The Duchess of Richmond’s Ball‘ von Robert Alexander Hillingford, rund sechzig Jahre nach den Ereignissen entstanden. Dafür, dass so wenig Damen anwesend waren, sind ziemlich viele Damen zu sehen. Sie tragen unwillkürlich Frisuren von 1875, und obwohl die Taille ihrer Kleider ganz richtig weit oben liegt, haben sie zu weite, stoffreiche Röcke und Riesenschleifen auf dem Pürzel. Auch das entspricht der aktuellen Mode beim Entstehen des Gemäldes, nicht der Zeit des Balls. Immerhin stehen einige schwarze Braunschweiger herum, die mit englischen Soldaten über militärische Fragen diskutieren. Nein, ich weiß nicht, was da auf den Boden gefallen ist. Ich hoffe jedoch, es ist kein Höschen, sondern ein Handschuh …

‚Before Waterloo‘ von Henry Nelson O’Neil entstand 1868 und zeigt nahezu völlig die Mode zu dieser Zeit, nicht zu der von Waterloo. Frisuren, Kopfputz, weite Röcke: alles 1868. Die Taillen sitzen eventuell ein Spürchen höher. Um mal zu zeigen, wie die Kleider 1815 ungefähr aussahen – hier ist ein Bild von Napoleons zweiter Gattin, Marie-Louise von Österreich. Das entstand ein paar Jahre vorher.

Selbst wenn sie heimlich auf einer großen Poschleife sitzen sollte, so ist doch die sehr hohe Taille deutlich und der eng geschnittene, anliegende Rock.

Schließlich noch eins meiner Lieblingsbilder: ‚The Black Brunswicker‘ von John Everett Millais.

Im Hintergrund an der Wand hängt der böse Feind. Der Schwarze Braunschweiger ist gestiefelt, gespornt, bewaffnet und entschlossen, in die Schlacht zu ziehen, um Napoleon alle zu machen. Sein Weib (für das übrigens die schöne Tochter von Charles Dickens, Kate, Modell stand) will ihn zurückhalten, hält ein bisschen die Tür zu, sinkt ihm an die Brust und meint, er soll jedenfalls gut auf sich aufpassen. Der Haushund teilt ganz diese Ansicht.

Das Gemälde entstand 1860 und der Maler nimmt überhaupt keine Rücksicht mehr auf authentische Mode. Was Kate Dickens da trägt ist 1860 der letzte Schrei, Taille am Platze und eng geschnürt, weiter, voluminöser Rock. Aber davon mal abgesehen, lief denn so die kleine Hausfrau herum, in schierer Seide (die Legefalten nicht gebügelt, auch das machte man Mitte des 19. Jahrhunderts gern, um die Kostbarkeit des Stoffes herauszustellen) und Spitze? Bestimmt nicht. Ich las in einer Beschreibung des Bildes, Millais habe andeuten wollen, dass die besorgte Schönheit noch im Ballkleid steckt. Weil sie mit ihrem Schwarzen Braunschweiger auf einem Ball war. Natürlich dem der Herzogin von Richmond …

Glücksfaktor: Es ist hilfreich, wenn man etwas zuordnen kann. Ich denke mir, als die Herzogin gestorben war und Petrus an der Himmelspforte ihren Namen nannte, wird er gesagt haben: „Ach klar. Du bist die mit dem Ball vor der Schlacht bei Waterloo …“

 


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