Der Hunsrück besteht überwiegend aus Steinen


Zumindest ist das mein Eindruck – ich seh das aus der Perspektive des Flachland-Marschbewohners. (Der Löwe meint allerdings, der Hunsrück bestehe inzwischen überwiegend aus Windrädern. Das ist die Wanderer-Perspektive.)

Wenn die Steine groß und größer werden, dann sind es Hügel oder sogar Berge, oft überzogen mit Bäumen dicht an dicht wie mit grünem Plüsch. Unter den Bergen oder in ihnen drin sind – oder waren – noch mehr Steine, vor allem Achate, aber auch Jaspis und Bergkristall. Weshalb jahrhundertelang nach ihnen gebuddelt wurde.

Diejenigen, die dort buddelten, das wissen wir aus dem Herrn der Ringe, waren die Zwerge. Aber über die werde ich demnächst mal gesondert erzählen.

So ab Mitte des 18. Jahrhunderts hatte es sich ausgebuddelt. Alles hat mal ein Ende, auch das Achatvorkommen. Inzwischen jedoch waren die Menschen der Gegend – besonders in den an der Nahe sich naheliegenden Orten Idar und Oberstein  – in großem Ausmaß auf Schmuckproduktion und -verarbeitung spezialisiert, um all den Steinen Schliff und Fassung zu verpassen. Es wimmelte von Achatschleifern und Goldschmieden. Hier befand sich inzwischen eins der wichtigsten Schmuckzentren Deutschlands. Gerade lief das Geschäft immer besser. Was jetzt?!

Jetzt besorgte man sich die Achate in Idar ganz einfach aus Brasilien und Argentinien. Da gab’s noch genug davon. (Und ganz nebenbei, weil man nun mit den Südamerikanern Geschäfte machte, auch mal hin- und herreiste und sich austauschte, wurde noch etwas völlig Anderes importiert: der Spießbraten! Der ist inzwischen eine kulinarische Spezialität im Hunsrück, ganz besonders in Idar-Oberstein. Das hat also letztendlich, vom Ursprung her betrachtet, auch mit den Steinen zu tun.)

Immer noch ist die Stadt einer der der Welthandelsplätze für Edelsteine. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand in Idar das 23-geschossige Gebäude der Diamant- und Edelsteinbörse. Es ist, wenn man es lange genug betrachtet, immerhin so was Ähnliches wie markant. Es fällt mir dennoch schwer, einzusehen, wie ein Architekt einen derart hässlichen, dumpfen Klotz in eine anmutige alte Stadt, umgeben von malerischer Landschaft, setzen und dann noch ruhig schlafen konnte. Aber das geht mich ja auch nichts an.

Der Stadtteil Oberstein konzentrierte sich nun statt auf Achate auf das Goldschmiedehandwerk und die reine Metallwarenherstellung. Es wurden haufenweise Uhrkettenfabriken gegründet. Nein, nicht Uhren. Sondern Uhrketten.

Am Ende des 19.Jahrhunderts war ein Mann erst ein richtiger Mann, wenn er eine Taschenuhr sein eigen nannte. Die hing an einer Uhrkette, deren anderes Ende in der Weste verschwand. Wer als junger Mann richtig, richtig Glück hatte, der bekam so eine Uhr zur Konfirmation oder Firmung oder er erbte eine vom verstorbenen Onkel. Dann konnte er sie alle paar Minuten an der Kette aus der Tasche ziehen und gucken, wie spät es war. Er konnte allerdings auch einfach die Uhrenkette ruhig vor seinem Magen baumeln lassen im Gefühl, eine Taschenuhr zu besitzen. Er war wohlhabend.

Und schlimmstenfalls leistete jemand sich einfach nur die Uhrenkette. Dann war er zwar nicht so direkt wohlhabend. Aber das sollte ihm erstmal jemand beweisen.

Vor dem ersten Weltkrieg (in dem die Armbanduhr sich als praktischere Variante der Zeitkontrolle erwies, weil man nur kurz den Ärmel hochschütteln musste, statt das Gewehr von sich zu werfen, um nach der Taschenuhr zu angeln) boomte hier der Weltmarkt für solche schön in sich selbst geschnörkelten Ketten. Einer der erfolgreichsten Fabrikanten dieser Ware war Jacob Bengel.

Er baute seine Fabrik 1873, wohnte mit seiner Familie praktischerweise über den Maschinenräumen ganz obendrüber und schwebte morgens über eine hübsche kleine Wendeltreppe nach unten, um die Mitarbeiter zu begrüßen und ein Schwätzchen mit ihnen zu halten.

Das weiß ich, weil die ehemalige Schmuckfabrik in Idar-Oberstein inzwischen ein Industriemuseum ist (als regionales Kulturerbe ausgezeichnet), in dem wirklich alles so erhalten blieb wie vor mehr als hundert Jahren. In den historischen Fabrikationsräumen stehen wahre Ungeheuer von Maschinen herum, einst das Modernste vom Modernen und Wunderwerke der Technik, da sie die Handarbeit des Einzelnen ersetzten, vervielfältigten und unglaublich beschleunigten. Wobei sie einen irren Lärm veranstalteten und das Gebäude zum Wackeln brachten. Sicherlich musste Familie Bengel, obendrüber, beim Essen ihre Teller festhalten. 

Viele der Maschinen sind deswegen fest im Boden verankert, weil sie sich sonst durch ihre eigene Gewalt über den Boden und womöglich durch die Wand bewegt hätten.

Die älteste der Kettenmaschinen, über hundert Jahre alt, funktioniert noch, wie alle ihre Schwestern in der Maschinenhalle. Eine kleine Greiftaste schnappt sich unermüdlich ein Stück Draht, verdreht es im richtigen Winkel und gibt es als gewundene Kette von sich, die in einen sich drehenden Eimer fällt – dadurch entsteht kein Kettensalat, sondern eine ordentliche Spirale.

Weil jedoch, wie gesagt, mit den zwanziger Jahren Taschenuhren nicht mehr gefragt waren, stellte sich Jacob Bengel um und fabrizierte jetzt vor allem Modeschmuck im Stil von Art Déco, der Fortführung des Jugendstils. Überwiegend bestand dieser Schmuck aus verchromten Metall und – Achaten? Keineswegs. Obwohl rundum überall alles so steinig war, wurde jetzt ein völlig andere Material in schöne Fassungen gebracht, nämlich Kuhmilch.

Na ja, oder zumindest das, was sich daraus machen ließ – außer Joghurt, Sahne, Butter und so weiter: Galalith. Die ‚Edelsteine‘, in leuchtenden Farben und hervorragend zu bearbeiten, bestehen aus verklumptem Milcheiweiß, Kasein. Galalith war einen der ersten Kunststoffe. von einem deutschen und einen schweizer Erfinder gemacht. 

Mit dem Anfang des 20. Jahrhunderts wurde 6 % der Gesamtmilchmenge des deutschen Reiches zu diesem Material verarbeitet. Man stellte daraus Knöpfe her, Kämme oder Besteckgriffe. Und natürlich die kühlen, geometrischen Ketten und Ohrringe des Art Déco

Übrigens werden heute noch mit den Originalwerkzeugen Schmuckstücke dieser Art aus Galalith von der Firma Jacob Bengel angefertigt – nach den Illustrationen der alten Musterbücher. Dieser Schmuck ist limitiert und mit einem Zertifikat der Bengel-Stiftung versehen.

Aber das ist etwas für Liebhaber und Kenner. Mit den fünfziger Jahren wurden neue Kunststoffe erfunden und – unter anderem – ebenfalls zu Modeschmuck gemacht. Heute kennt kaum noch jemand  das Galalith.

Glücksfaktor: Auf jeden Fall lohnt sich ein Besuch in diesem ungewöhnlichen Museum!

2. Glücksfaktor: Reisen. Reisen bildet.


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