Ich kannte vor einigen Jahrzehnten einen kleinen Jungen, silberblond, hübsch, zart und ungemein liebenswürdig. Es war ein Vergnügen, mit ihm zusammen zu sein. Wo ist er jetzt?
Er ist verschwunden, ohne zu sterben oder auszuwandern. Es gibt ihn nicht mehr, nirgends. Ich kann mir nur alte Fotos anschauen und mich an ihn erinnern. Als hätte jemand dieses bezaubernde Kind umgebracht. Der Täter war die Zeit.
Nichts bleibt. Alles verändert sich, über Stunden, Tage, Jahre, Jahrhunderte.
Freunde und Partner, Verwandte und Kollegen sind, genau wie Landschaften oder Städtebilder, höchst veränderlich.
Ich sehe mir alte Fotos von mir selbst an. Ich hab ein gutes Gedächtnis und weiß noch, was für ein Kleid ich da trug, was das für ein Tag war, wie wütend irgendetwas mich gemacht hat. Die Wut und mein junges Ich sind im Bild festgehalten, in der Erinnerung. Mein junges Ich gibt es nicht mehr, dieses überschlanke, sehr aufmüpfige und schwierige Geschöpf. Die Zeit hat es entfernt.
Die Zeit braucht ihre Leichen nicht zu verstecken. Sie gehen unmerklich ineinander über.
Tief in einem großen, freundlichen Mann mit dichten Augenbrauen, der weit weg auf einer Insel lebt, steckt der winzig kleine, zarte hellblonde Junge, den ich mühelos hochheben und mir auf eine Hüfte setzen konnte, dem ich vor dem Einschlafen vorgelesen und mit dem ich im Auto gesungen habe. Dort drinnen befindet sich auch der mollige Halbwüchsige mit dem taillenlangen Haar, Sieger im Blitzschach in der Nachbarschaft, plötzlich mit hintergründigem, sogar etwas boshaftem Humor – der drahtige Schauspielschüler mit den vielen, vielen guten Freunden, der sich nicht genierte, mich auch mal mitten in der Nacht anzurufen, um ein langes philosophisches Gespräch zu führen. Sie MÜSSEN in ihm stecken – wo sonst sollten sie sein?
Genauso leben in mir alle Personen die ich je gewesen bin, Menschen jeder Altersstufe bis hierhin. Und das, was ich jetzt bin, wird langsam, kaum wahrnehmbar, nach innen wachsen und einer alten Frau Platz machen, die dann allein noch zu sehen und zu erleben ist …
Glücksfaktor: Wenn man es schafft, mit der Zeit einverstanden zu sein.
2 Antworten zu “Der Mensch im Menschen”
Ganz wunderbarer , tief greifender Text, liebe Dagmar. Wer bin ich heute, wer war ich gestern, und was erinnere ich von mir? Ein weites Feld…
Danke, Liebe! Schön, dass du Freude an den Texten hast. 🙂