Es waren einmal zwei Schuhe, die sich sehr viel bedeuteten.
Beide waren für den linken Fuß gemacht. Der eine, Linki, war rot und der andere, Linkus, braun.

Sie lernten sich an einem milden Sommerabend in einer S-Bahn kennen. Zuerst standen sie in einiger Entfernung voneinander, schauten sich nur an und gefielen sich. Dann setzte die Besitzerin der roten Schuhe, Heidi, sich hin – da konnten sie sich kaum noch sehen. Aber dann bekam der Besitzer der braunen Schuhe, Nils, ebenfalls einen Sitzplatz, zufällig genau gegenüber!

Da nickten sich Linki und Linkus ganz dicht voreinander zu – denn der Besitzer der braunen Schuhe hatte das linke Bein über das rechte geschlagen. Die Trägerin der roten Schuhe machte es genau so und saß etwas schräg. Dadurch wippten ihre Schuhspitzen im Rhythmus der Bahn. Manchmal streiften sie sich sogar ganz leicht. Nun konnten die linken Schuhe sich zum ersten Mal miteinander unterhalten. Die Schuhbesitzer kamen ebenfalls ins Gespräch. Sie beschlossen, gemeinsam noch in eine neue Bar in der Nähe des Hafens zu gehen.
Dort spielte herrliche Musik. so dass Heidi und Nils miteinander tanzten. Da verliebten sich Linki und Linkus endgültig, unsterblich.
Spät in der Nacht, als Linki neben ihrer Schwester Rechta vor Heidis Bett stand, schilderte sie ihre Gefühle. Rechta war ihre engste Vertraute seit jeher, die beiden hatten keine Geheimnisse voreinander.
„Gefällt dir übrigens sein Bruder nicht, dieser Rechtikus?“ wollte Linki wissen.
„Überhaupt nicht. Wie der schon guckt! Er ist so rechthaberisch. Außerdem knarrt er etwas. Und auf der Innenseite ist er ein bisschen abgeschrammt. Nee, du, vielen Dank. Nichts für mich. Du bist also sicher, dass du Linkus liebst? Sei vorsichtig!“, warnte Rechta. „Die Brüder sind nicht aus echtem Leder. Das ist irgendwie Plastik, wenn du mich fragst …“
„Das ist vegan!“, erwiderte Linki beleidigt. „Dafür musste bittesehr kein Tier sterben, wie für uns! Es ist absolut cool für Menschen, Kunstlederschuhe zu tragen.“
„Sie machen Schweißfüße“, behauptete Rechta.
„Sie machen keine Schweißfüße!“, schnappte Linki.
Da hatten sich die Schwestern zum ersten Mal gestritten. Sie schliefen mit voneinander abgewandten Schuhspitzen. Dabei konnte Linki sowieso die ganze Nacht nicht schlafen, obwohl sie vom Tanzen müde war. Für Schuhe ist es noch schwieriger als für Menschen, sich von der Meinung der Geschwister frei zu machen. Wenn Rechta die braunen Brüder so wenig mag, dann haben Linkus und ich kaum eine Chance, dachte Linki traurig.
Aber Heidi und Nils sahen sich wieder. Manchmal trugen sie dabei Turnschuhe, dann saß Linki zu Hause und seufzte schwer und ihre Schwester rollte die Augen. Manchmal zog Heidi ihre schönen, glänzenden roten Schuhe an – und wenn Linki sich wie verrückt freute, stellte sich heraus, dass Nils an diesem Abend schwarze Schuhe trug!
Aber immer mal wieder trugen beide die Roten und die Braunen gleichzeitig und gingen sogar in ihnen tanzen. Dann war Linki glücklich.
Schließlich blieb Nils über Nacht in Heidis Wohnung – beide streiften sehr hastig ihre Kleidung ab, die Schuhe flogen gemeinsam in eine Ecke.
„Aua!“ rief Rechta empört, denn Rechtikus hatte sie mit seinem Schnürsenkel am Absatz getroffen. Er sagte nicht einmal Entschuldigung. Er konnte die beiden roten Schuhe nicht leiden.
Linki und Linkus jedoch lagen die ganze Nacht eng umschlungen im Katzenkorb, in den sie aus Versehen geschleudert worden waren.
Am nächsten Morgen hörten die Schuhe, dass Heidi und Nils in eine gemeinsame Wohnung ziehen wollten. „Oh, wie wunderbar!“ rief Linki.
„Wie wunderbar? Du bist närrisch!“, sagte Rechta. „Für Schuhe gibt es kein Happy-End, weißt du das nicht? Wir kommen aus der Mode und in den Müll, so geht es für uns aus. Hör auf, dir Märchen einzubilden!“
„Ich will aber an Märchen und Happy-Ends glauben!“ sagte Linki trotzig. „Und auch an Wunder.“
Zunächst sah es aus, als sollte sie Recht behalten. Die Roten und die Braunen wohnten nun gemeinsam in einem großen Schuhschrank. Heidi und Nils sprachen inzwischen von Hochzeit – und Heidi wünschte sich dafür ein weißes Kleid und weiße Schuhe.
Doch dann kam ein Tag, an dem in der Wohnung Gewitterschwüle herrschte. Heidi trug Rechta und Linki und stampfte mit ihnen wütend auf dem Laminat herum. Als Nils abends nach Hause kam, wurde er gleich angeschrieen. Es ging um eine Carola und lauter Lügen. Zum Schluss zog Heidi plötzlich Linki von ihrem Fuß und begann, Absatz voran, mit ihr auf Nils einzuprügeln.
Das war das Ende. Linki und Linkus bekamen nicht einmal die Möglichkeit, sich voneinander zu verabschieden. Nils packte seine Sachen ein, auch die braunen Schuhe. Dann war er weg.
„Du wirst anderen Herrenschuhen begegnen, sogar welchen aus echtem Leder“, versuchte Rechta zu trösten. Linki hörte gar nicht zu.
Es gab in der Tat andere Herrenschuhe, denn Heidi lernte einen neuen Mann kennen. Rechta freundete sich für ein Weilchen mit einem marineblauen Turnschuh an, obwohl sie zugab, dass er unter ihrem Niveau lag.
Und dann, einige Jahre später, brachte Heidi ihre roten, glänzenden Schuhe in ein Second-Hand-Geschäft. Dort lagen sie lange herum, bis eine sehr dicke Lady sie kaufte. Die fand die Schuhe schön, konnte jedoch nicht richtig in ihnen laufen. Rechta und Linki verbrachten viele Jahre unten in einem Schrank und starrten auf die über ihnen schwankenden Rocksäume.
Schließlich starb die dicke Lady. Ihre Nichte sortierte ihre Sachen auseinander und murmelte: „Sie hat sich dauernd was gekauft und ganz wenig getragen! Hier – die roten, glänzenden Schuhe sind ganz hübsch. Aber – ach, da ist ja bei beiden seitlich schon das Leder geplatzt. Die sind alt …“
Die Nichte machte ein großes Paket aus Kleidern und Schuhen und brachte alles mit dem Auto zu einem Altkleider-Container.
„Nun geht es mit uns zu Ende – wir werden verbrannt! Alles Gute für dich, Schwester“, seufzte Rechta. Wie so oft sollte sie Recht behalten, zumindest, was sie selbst anging. Sie wurde verbrannt – denn für Arme und Bedürftige taugten halb kaputte, glänzende rote Schuhe mit hohen Absätzen nicht.
Aber bevor Linki ebenfalls im großen Ofen landete, hielt sie eine Hand fest. „Moment!“, sagte ein bärtiger Mann, „dieser hier ist für meine Zwecke geeignet! Danke, ich glaube, dann hab ich alles …“
Der Mann stieg in ein großes schwarzes Auto und legte Linki auf den Sitz neben sich. Während er fuhr, unterhielt er sich mit dem kaputten alten Schuh. „Na du? Du hast wohl auch bessere Zeiten gesehen. Früher musst du eine Schönheit gewesen sein und sicher hast du einer Schönheit gehört. Du hast an ihren Füßen getanzt – ja, ich kann es mir vorstellen. Du trägst die Erinnerung in dir. Und du spiegelst sie wieder. Das ist, was ich darstellen will …“
Sie fuhren zu einer etwas einsam gelegenen Villa, und der Mann brachte Linki in ein Zimmer mit besonders vielen Fenstern, das er ‚Studio‘ nannte. In der Mitte des Raums stand auf einem Tisch ein seltsamer weißer Klumpen, in den alle möglichen bunten Gegenstände halb hineingedrückt waren: Handtaschen, ein ausgestopfter Handschuh, ein Schleierhütchen, eine Babyrassel, ein hölzerner Kochlöffel. Und ein blaues Pantöffelchen, ein weißer Babyschuh, ein brauner Herrenschuh. Ein linker. „Linkus!“ schrie Linki, während sie in die kühle Masse neben ihrer großen Liebe gedrückt wurde. „Linkus – was ist das hier?“
„Es ist ein Kunstwerk. Hat was mit Zeit zu tun“, erklärte Linkus. „Meine Liebste! Ich kann nicht fassen, dass ausgerechnet du es bist! Was für ein unglaublicher Zufall.“
„Ja, es ist ein Wunder. Ein echtes Happy-End, nicht wahr? Jetzt bleiben wir immer zusammen!“ seufzte Linki.
Und wenn das Kunstwerk nicht zerstört worden ist, dann steht es immer noch irgendwo in einer Galerie herum.
Glücksfaktor: Ja, eben. Ernst hat gesagt, jede Gutenacht-Geschichte muss gut ausgehen, weil man sonst nicht drauf schlafen kann …