Die Katastrophe in Bhopal und das Glück der Menschen


Alles im Leben hängt davon ab, ob man Glück – oder ob man Pech hat. Es kommt schon vor, dass Menschen von Anfang an praktisch immer nur eins von beidem erleben.

Beispielsweise Wassim Aktar. Er wurde im Juni 1950 in einem indischen Slum geboren, im  Bundesstaat Madhya Pradesham, am Rande der Hauptstadt Bhopal. Das war bereits Pech. Seiner Mutter war Gewalt angetan worden, was ihm verbot, jemals nach seinem Vater zu fragen. Deshalb konnte er auch nicht erwarten, dass sie ihn lieb hatte. Er musste bereits als kleiner Junge für sich selbst sorgen, indem er Gegenstände aus dem Müll heraussuchte, die sich verkaufen ließen. Wieder Pech: Er riss sich an der scharfen Kante einer Batterie die Hand auf und die Wunde infizierte sich in schmutzigem Wasser. Natürlich fehlte ihm das Geld, zum Arzt zu gehen. Von der Verletzung blieb später sein rechter Arm steif und die Hand unbeweglich.

Wassim begegnete Sada, als er zwanzig war. Sie heirateten und bekamen vier Kinder, von denen drei starben, bevor sie laufen konnten, denn die Gegend, in der sie lebten, war der Gesundheit nicht zuträglich. Ihre Tochter Rana, 1976 geboren, wurde immerhin acht Jahre alt.

Und dann bekam Wassim eine feste Anstellung, trotz seiner Behinderung! Das sah kurzfristig aus wie Glück. War’s aber nicht, im Gegenteil. Den Job gab es in einer großen Fabrik für Pestizide, Union Carbide India Limited (UCIL). Halb gehörte der Betrieb den amerikanischen Unternehmern, halb dem indischen Staat sowie privaten Investoren. 

Das Werk, in dem Insektenvernichtungsmittel hergestellt wurden, die alles wegputzten, was mehr als vier Beine hatte – auch gern Bienen – stand nicht zufällig genau an dieser Stelle, sie war vielmehr für die Besitzer ein Glücksfall. Direkt daneben befanden sich ausgedehnte Slums (Wassims Heimat) mit Tausenden von billigen Arbeitskräften, die auch noch furchtbar stolz darauf waren, hier zu schuften. Leider stellte sich nach einigen Jahren heraus, dass UCIL doch nicht genug Profit abwarf. Nun sah man sich zu Sparmaßnahmen gezwungen.

Zunächst entließ man ungefähr die Hälfte der Angestellten. Natürlich auch Wassim mit seinem einen brauchbaren Arm. Wunderbar sparen konnte man an den Sicherheitsregeln. Das Sicherheitstraining, gesetzlich vorgeschrieben bei dieser Art von Ware, wurde von sechs Monaten drastisch auf zwei Wochen abgekürzt, und man verwendete Ersatzteile aus billigem, teilweise absolut unzureichendem Material.

1982, zwei Jahre vor der Katastrophe, wurde im Werk von amerikanischen Experten eine Sicherheitskontrolle durchgeführt. Den Experten standen die Haare zu Berge. Sie entdeckten mühelos 61 Sicherheitsmängel, 30 davon überaus gefährlich, vor allem in den Bereichen, in denen mit einer hochgiftigen chemischen Verbindungen gearbeitet wurde, Methylisocyanat (MIC). Wenige Tropfen davon können für Menschen tödlich sein. Die Überprüfung ergab: Ein massiver Giftgasaustritt war nicht nur möglich, sondern unter den gegebenen Bedingungen geradezu wahrscheinlich.

Die Püfer meldeten diese alarmierende Tatsache an die Unternehmensspitze. Der Mann, der hier in höchster Position saß und die Verantwortung trug, Warren Anderson, reagierte sofort …

Aber nun sollten wir einen Blick auf diesen Menschen werfen. Er gehört nämlich zur anderen Sorte, denen, die im Leben fast immer Glück haben. Warren Anderson wurde im November 1921 als Sohn schwedischer Einwanderer in New York geboren. Er erhielt mehrere Stipendien – Glück – und konnte deshalb Chemie studieren. Nachdem er sein Studium beendet hatte und Amerika am zweiten Weltkrieg teilnahm, trat er 1942 in die Navy ein, um sich zum Kampfpiloten ausbilden zu lassen. Glück, denn beides dürfte den meisten jungen Wehrpflichtigen in den USA als erstrebendwert erschienen sein. Noch größeres Glück bedingte, dass Anderson anschließend keineswegs Kampfeinsätze fliegen musste, bei denen er in Lebensgefahr geraten wäre. Vielmehr ermöglichte ihm sein sportliches Talent, für das Team der Navy Football zu spielen. Dadurch half er, die Kampfmoral seiner Kameraden zu stärken und sie bei guter Laune zu halten – und war vom Einsatz  freigestellt.

Nach dem Krieg nahm Warren Anderson eine Stelle als kleiner Vertreter beim Chemieunternehmen Union Carbide an. Er war anstellig, charmant und tüchtig und arbeitete sich schnell in die Höhe. Bald leitete er verschiedene Sparten der Firma in Lateinamerika, Afrika und Europa und studierte nebenher noch Jura bis zum Abschluss, 1956. 

Er war sehr glücklich mit seiner Frau Lillian verheiratet, die seine Interessen am Angeln und an der Gartenarbeit teilte. 1979, im Alter von 58 Jahren, hatte Anderson es bis ganz nach oben geschafft. Er war nun Präsident und Generaldirektor von Union Carbide. Höher hinauf ging nicht. Er besaß zwei wunderschöne, geschmackvoll gestaltete Häuser, eins in New York und eins in Florida am Strand, für die Wintermonate.

Dieser durch und durch erfolgreiche Mann also, geradezu vom Glück gepäppelt, erhielt jetzt die warnende Information seiner Sicherheitsexperten, dass in Bhopal in Indien eine Katastrophe lauere, und er reagierte sofort. Es gab nämlich eine nahezu identische Anlage seines Unternehmens in West Virginia, der demnach womöglich die gleiche Gefahr drohte. Warren Anderson sorgte dafür, dass dort alles Zackzack auf den aktuellsten Stand gebracht wurde. Was Indien anging, das war ja ziemlich weit weg, Da unternahm er nichts.

Wassim Aktar, in seinem üblichen Pech, war gar nicht weit weg. Er wohnte mit seiner kleinen Familie, Sada, der kleinen Rana sowie der Schwester seiner Frau und ihren zwei Kindern, in einem dürftigen Verschlag ganz in der Nähe der Fabrik, immer in der Hoffnung, vielleicht wieder eingestellt zu werden. 

Und dann wurden also im Dezember 1984, mit dem Beginn des neuen Tages, fast 40 Tonnen Giftgas freigesetzt. Ein Kühlsysthem war schon vor Monaten abgeschaltet worden, ein Natronlaugenwäscher, der austretende Gase beseitigen konnte, funktionierte nicht. Jetzt wurde versucht, das Gas abzufackeln – die entsprechende Anlage jedoch reagiert nicht. Die Alarmanlage war abgeschaltet: ‚Um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen‘. Die trotzdem beunruhigte Bevölkerung indessen rannte, schmerzgepeinigt, um ihr Leben in die Richtung des Krankenhauses – und damit immer tiefer in die Giftwolke hinein.

Drei Stunden nach dem Unfall taucht der Betriebsleiter auf und versuchte, die Polizei zu verständigen. Leider waren alle Telefone defekt, weshalb ein Arbeiter zu Fuß zur Polizeistation geschickt wurde, mitten durch die wie eine dunkle Riesenschlange über den Boden wabernde Giftgaswolke.

Wassim wachte auf, weil die Kinder weinten und seine Frau schrie. Allen brannten die Augen, obwohl die geschlossen gewesen waren. Sie hörten, wie ihre Nachbarn herumliefen und ebenfalls schrieen. Sie nahmen die Kinder auf den Arm und hetzten nach draußen. Dort sahen sie viele Menschen am Boden liegen und sich winden – sowie einige, die bereits ganz still lagen, neben toten Rindern, Ziegen und Hunden. 

Man schätzt die Zahl der Opfer auf bis zu 25.000 Tote und 500.000 Verletzte. Viele leiden heute noch unter den Unfallfolgen. Die Menschen erblindeten sehr häufig, erlitten Lähmungen, Schwellungen der Lunge und aller anderen Organe, Hautkrankheiten und Hirnschäden. Die inzwischen dritte Generation leidet an einer Vielzahl von Fehlbildungen und Behinderungen von Geburt an. Das liegt sicher nicht nur an der Katastrophe selbst, sondern auch daran, dass das gesamte Gelände nach wie vor kontaminiert ist und das Gift sich inzwischen im Grundwasser findet. Bisher wurde nichts davon entfernt.

Wassim hatte weiter Pech. Er verlor in dieser Nacht sein Augenlicht und seine kleine Tochter, seine Frau bekam zwei Jahre später Krebs und starb ziemlich schnell. 

Doch, das große Chemieunternehmen hat einige Millionen abgedrückt – wenn auch beileibe nicht so viel, wie die indische Regierung verlangte. Davon ist dann auch manchmal ein bisschen an die Opfer weitergegeben worden. Wassim Aktar etwa bekam umgerechnet 600 Euro, einmalig. Er starb an den Folgen der Vergiftung fünf Jahre später, bevor er vierzig Jahre alt war. Er starb sehr unglücklich.

Warren Anderson, der große Boss, flog vier Tage nach dem Giftunfall nach Indien, was von einigen Zeitungen als mutige Tat gewertet wurde, denn er riskiere, schrieb ein Journalist, ‚Ein überfülltes, rattenverseuchtes Gefängnis‘. Andererseits war bei seinem Glück eigentlich nicht damit zu rechnen.

Tatsächlich nahm ihn die indische Polizei fest. Allerdings konnte er sich nach drei Stunden Haft gegen eine Kaution von ungefähr 1500 Euro (2000 Dollar) verzupfen. Er flog sofort in seinem Privatflugzeug nach Hause und begab sich wenige Jahre später – schließlich hatte er genug geleistet – in den verdienten Ruhestand. 

Zwar bemühte sich die Indische Regierung um seine Auslieferung und suchte ihn sogar mit einem Haftgefehl. Diesem Gesuch kam jedoch die USA nicht nach und Anderson selbst meinte wohl auch, nun genug Mut gezeigt zu haben. Er starb im Beisein seiner Frau, im Alter von 92 Jahren, in Florida …

Glücksfaktor: lieber kein Insektengift, sondern eine Fliegenpatsche …

 

 


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