Sie forderte ungefähr eine Million Opfer auf der ganzen Welt und war die schlimmste Atemwegs-Infektion aller Zeiten – also bis dahin. Darüber konnte die Spanische Grippe mit ihren mehr als 25 Millionen Opfern, zwanzig Jahre später, natürlich nur müde lächeln. Aber das wusste man damals ja noch nicht.
Die Wissenschaft ist sich noch nicht einig, ob es sich bei der Russischen Grippe (Pandemien hatten früher immer einen ausländischen Vornamen – die Russen ihrerseits nannten sie ‚Chinesischer Schnupfen‘) um Influenza- oder Coronaviren gehandelt hat. Die Grippe spülte in vier Wellen um die Erde, beginnend im Sommer irgendwo in Zentralasien. Sie bediente sich, um sich von dort her auszubreiten, der Transkaspischen Eisenbahn, die genau ein Jahr vorher freundlicherweise fertiggestellt worden war. Vernetzung ist eine praktische Sache. Im Oktober 1889 machte die Seuche es sich in Sankt Petersburg bequem und nutzte die Großstadt, um möglichst jeden anzustecken. Weil es sich als erfolgreich und behaglich erwiesen hatte, reiste die Krankheit weiter mit der Eisenbahn in die Hauptstädte Europas, Berlin, Wien und Paris, wo sie die Menschen im November und Dezember in die Betten schickte.
Mit dem Jahreswechsel, Anfang 1890, erreichte sie England, wo sie sich besonders wohlzufühlen schien. Über 400.000 Menschen erkrankten, 4000 davon starben, zumeist ältere Personen und Kinder. Einer der ersten auf der Insel, der sich ansteckte, war der Premierminister Lord Salisbury. Ein damals fünfzehnjähriger Schüler der Eliteschule Harrow namens Winston Spencer-Churchill fühlte sich dadurch zu einem kleinen Gedicht angeregt, in dem es heißt:
The rich, the poor, the high, the low
Alike the various symptoms know
Alike before it droop
so etwa:
Die Reichen, die Armen, die Hohen, die Niedrigen
Kennen die gleichen Symptome
bevor sie schlapp machen
Mit anderen Worten, die Pandemie sei, wenn schon sonst nichts, so jedenfalls lobenswert vorurteilsfrei. Wenn auch gesagt werden muss, dass sie sich, zumindest in ihrer ersten Welle, auffallend viele Eisenbahn- und Postangestellte schnappte. Vielleicht hatte sie was mit Uniformen laufen.
Bis zum Frühling verbreitete die Russische Grippe sich auf dem gesamten Erdball. Sie ging schnell und energisch vor. Der Erkrankte bekam sofort hohes Fieber, spürte Kopf- und Gliederschmerzen, fast immer auch starke Übelkeit und heftiges Erbrechen. Manchmal war alles nach drei Tagen vorbei; wenn der Patient Pech hatte, setzte sich die Sache jedoch im Lungengewebe fest, wurde langwieriger, führte zu Atemnot und Ersticken.
In den folgenden sechs Jahren war sie nie völlig verschwunden, vermittelte jedoch immer mal wieder den Eindruck, nun sei es vorbei – bis sie sich zur nächsten großen Welle aufbäumte und wieder Tausende von Menschen fraß.
Die Statistik hatte einige Probleme damit, klar zu erfassen, wer nun eigentlich an der Russischen Grippe gestorben war – und wer mit ihr. Denn den Menschen, die der Krankheit erlagen, wurde als Todesursache ‚Lungenentzündung‘ bescheinigt.
Es gab Überlegungen, ob die Russische Grippe von Pferden oder Rindern auf den Menschen übergesprungen sein mochte. Inzwischen hält man es für möglich, dass sie eine Kusine der uns bekannten Virusvariante ‚Covid 19‘ gewesen sein mag. Immerhin gehörte zu den Anfangs-Symtomen häufig Geruchs- und Geschmacksverlust – während es dann später zu langandauernden Spätfolgen verschiedener Art kam, namentlich psychische Auswirkungen wie Depressionen.
Die damaligen Ärzte waren übrigens rat- und hilflos. Es gab keine Impfstoffe, keine Masken, keine drei-G-Regeln. Dadurch entstanden vermutlich so viele neue Inzidenz-Wellen.
Glücksfaktor: Dass wir inzwischen in so enorm vielen Beziehungen so beglückend weiter sind …