Die Taube auf dem Dach


Sonntagmorgen. Ziemlich früh aufgewacht und aus dem Badezimmerfenster geguckt, was sich das Wetter für heute denn ausgedacht hat. Da sitzt sie, etwas seitlich links über der Regenrinne, dicht genug für Augenkontakt, zu weit weg zum Anfassen – eine schneeweiße, bildhübsche Taube.

„Guten Morgen! Was machst du denn da?“

Lächelt schüchtern, krümmt etwas verlegen die rosa Zehen. Um sie herum bemerke ich kleine weiße Federflöckchen. Entweder hat sie sich zu energisch gekämmt, oder sie ist angegriffen worden. Letzteres liegt näher, denn wenn jemand vorbeifliegt, duckt sie sich ein bisschen.

„Löwe – guck doch mal! Wir haben Besuch!“

Wir staunen sie beide an. Der Taube ist das ziemlich peinlich, sie guckt so lange in den Garten. (Ernst schläft noch und das ist gut so. Er würde versuchen, auf das Dach zu klettern und die Regenrinne ruinieren.)

Lydia guckt sich die Sache aus dem Garten an. 

Das ist natürlich keine Wildtaube. Aber auch keine Brieftaube. Oder? Um ihr rechtes Bein sitzt ein Ring – silbern oder weiß, das bedeutet, sie ist letztes Jahr aus dem Ei gekommen, erfahren wir aus dem Internet.

Vermutlich ist es eine Hochzeitstaube. Die meisten Leute heiraten am Wochenende. Uetersen ist die bekannte ‚Hochzeitsstadt‘. Es ist so wahnsinnig romantisch, zur Hochzeit Tauben fliegen zu lassen. (Hab ich noch nie begriffen. Wieso ist das romantisch?)

Anruf beim Tierschutzverein: Nicht da wegen Sonntag. Anruf bei der Tierschutz-Notrufnummer, zu  der im Internet steht: Rund um die Uhr erreichbar. Klingelt endlos und ist dann besetzt.

Anruf bei drei verschiedenen Taubenzüchtern: Vermissen keine Taube. Einer erzählt endlose Geschichten aus seinem Leben und dem seiner Vögel. Ist nicht aus dem Telefon zu bekommen.

„Was sollen wir denn nun mit Paloma machen?“ 

„Körner geben und vor allem Wasser.“ 

„Wie denn? Wir kommen da nicht ran und das Dach ist schräg …“

„Tje …“

Anruf bei Arne. Der will den Daumen drücken und rät, die Polizei anzurufen. Er hatte in Berlin mal einen Singvogel im Treppenhaus, den hat die Polizei ganz liebevoll abgeholt.

Anruf bei der Polizei. Meldet sich eine sportliche Frauenstimme.

„Wir haben auf unserem Dach eine Taube – also eine weiße – mit beringtem Bein. Hat sich wohl verflogen.“

Sportliche Frauenstimme: „Und was sollen wir dabei? Dafür sind wir nicht zuständig.“

„Ja. Nein. Natürlich nicht. Wir hatten gehofft, Sie können uns Züchter nennen, die Hochzeitstauben züchten? Hier in der Nähe?“

Sportliche Frauenstimme: „Die fliegt schon wieder weg.“

Anruf bei einem guten Freund: „Wir haben eine Taube auf dem Dach …“

Guter Freund: „Besser als eine Blinde im Bett …“ – Aber er wälzt die Regionalzeitung und gibt die Telefonnummer aus der Anzeige: „Eine perfekte Hochzeit mit romantischen weißen Tauben …“

Angerufen und am Sonntag gescheitert. Da ist keiner. Leider.

Jetzt rufe ich einen alten Bekannten an, der Tauben gezüchtet hat und erfahre von seiner Witwe, das hat sich erledigt.

Mr. Google gefragt. Es gab bestimmt schon mal so einen Fall? Aber und wie! Wir erfahren, es handelt sich vermutlich um eine ‚Ziertaube‘. So wie Zierpflanze. Die haben weniger gute Navi-Instinkte als andere Tauben, weil auf Schönheit gezüchtet, nicht auf clever. Da hat Ulla wieder mal recht mit ihren inneren Werten!

Wir könnten einen Käfig anschaffen und mindestens noch eine Taube, sonst wird Paloma schwermütig. Sie erträgt keine  Einsamkeit. Wir wollen aber nicht unbedingt eine Taubenzucht gründen.

Paloma blinzelt müde und sieht sehr erschöpft aus. Sie braucht dringend Körner und Wasser, das kann jeder sehen. Ich streute Sonnenblumenkerne, Kürbiskerne, Linsen und Reis in die Regenrinne. Aber wie soll das mit dem Wasser funktionieren?

Dem Löwen fällt so was ein, er präpariert ein Tupper-Näpfchen mit einem langen Klebeband, füllt etwas Wasser rein, lässt alles vorsichtig runter und klebt es fest. Paloma guckt interessiert. Wir verschwinden taktvoll, um ihr Gelegenheit zu geben, sich zu erfrischen.

Mail an einen Journalisten aus der Gegend: Der kennt doch bitte bestimmt Züchter von Hochzeitstauben? Antwortet erstmal nicht.

Paloma wirkt nach einer Weile merklich erholt. Es sieht so aus, als hätte sie sich an Körnern und Wasser gestärkt.

Ernst will ins Badezimmer und auf das Dach. Wir spielen lieber Monopoli mit ihm. Er darf auch Millionär werden.

Und beim nächsten Gucken, inzwischen nachmittags – ist die Taube verschwunden.

Abends antwortet unser Journalisten-Freund: ‚Das mit den Hochzeitstauben ist eine ärgerliche und traurige Sache. Die werden zum Wegschmeißen gezüchtet, nur für diese eine Gelegenheit. Haben eigentlich kein Zuhause, werden auch nicht trainiert, zurückzufinden. Das lohnt nicht, neu züchten ist billiger. Durch das ‚Fliegenlassen‘ werden sie praktisch ausgesetzt. Vorher von vielen Menschen angegrabscht, rein in den Käfig, transportiert, Lärm und Stress. Die werden normalerweise von Raubvögeln erledigt, auch, weil sie ja nicht gerade eine Tarnfarbe besitzen und keine Erfahrung mit der freien Wildbahn. Die wissen noch nicht mal, dass sie sich verstecken müssten. Es ist verboten, Tiere auszusetzen. Aber das ist den Züchtern egal, weil das Geschäft sich lohnt.‘

Vielleicht sollte man an so was denken, wenn man eine  romantische Hochzeit plant.

Glücksfaktor: Der Spatz in der Hand …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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