Das ist eigentlich merkwürdig. Man sollte denken, nur über die Zukunft ahnen wir wenig bis nichts. Alles Mögliche kann unerwartet passieren.Das, was bereits passiert ist, wissen wir doch schließlich und es steht fest?
Aber das stimmt nicht. Die Vergangenheit verschiebt sich, sie tanzt hin und her. Sie wurzelt nämlich in unserer Wahrnehmung. Und da hat sie keinen sehr sicheren Stand. Solange wir meinen, alles Blaue sei wichtig, fällt uns vor allem das Blaue auf. Ändern wir jedoch diese Ansicht und interessieren uns besonders für das Rote, dann ergibt sich ein völlig anderes Bild.
Die Forschung beispielsweise verändert die Vergangenheit. Das heißt Revisionismus. Durch neue Erkenntnisse erlangt das längst Geschehene eine andere Bedeutung, als man lange glaubte.
Schurken der Geschichte erweisen sich durch neue Erkenntnisse als wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft – und umgekehrt.
Als ich ein kleines Mädchen war, machte meine Klasse einen Ausflug zum Schloss Gottorf. Dort war ich tief beeindruckt von einer Moorleiche in einer Vitrine, damals hieß sie ‚das Mädchen von Windeby‘. Die Mumie, gewaltsam getötet, trug eine Binde vor den Augen und es hieß, ihre rechte Hand (der Daumen steckte zwischen den Fingern), sei zu einer Geste geformt worden, die aussagte, sie wäre eine Ehebrecherin gewesen. Deshalb, zur Strafe, Mord im Moor.
Inzwischen, dank unermüdlicher Forschung, wurde aus dem Mädchen ein Jüngling, den man keineswegs abgemurkst, sondern liebevoll bestattet hat. Sein Haarband rutschte ihm über die Augen, das kann ja im Lauf von 2000 Jahren vorkommen, und seine rechte Hand wurde nach dem Moor-Fund im Jahr 1952 versehentlich verbogen.
Ups.
Foto: Bullenwächter
Das schuldbeladene Moor-Mädchen, das mich in meiner Kindheit so beeindruckt hatte, kann ich beerdigen. Es hat sie nie gegeben.
Und das lässt sich auf viele Personen oder Begebenheiten der Weltgeschichte beziehen. Was meine (ziemlich allgemeingebildeten) Eltern als erwiesen ansahen und mir erzählten, ist inzwischen teilweise widerlegt. Wobei keiner wissen kann, ob es sich nicht mit fortschreitender Forschung wieder ganz anders zeigt.
Ähnlich ist das mit emotionalen Werten.
Ansichten verwandeln das Angesehene, und wenn es noch so sehr in der Vergangenheit liegt.
Wir alle, (mehr oder weniger jedenfalls), verehren einen Geisteskünstler, einen Schriftsteller, einen Politiker, Professor Sowieso, von dem wir meinen, er hätte Großes für die Menschheit geleistet. Aber dann ergibt sich, dass wir alle (mehr oder weniger) ganz entschieden und immer leidenschaftlicher der Meinung sind, es sei unmöglich, Fische in Aquarien zu halten. Schlimmste Tierquälerei, die offenbart, dass ein Aquarienhalter ein unmoralischer Mensch ist, ein Sadist, der vermutlich auch heimlich kleinen Kindern die Bonbons wegnimmt. Und nun stellt sich heraus, der verehrte Meister, seit fünfzig Jahren tot, besaß ein Aquarium!
Wir stürzen ihn vom Sockel, nehmen beschämt sein Bild von der Wand, tilgen seine Widmung aus unseren Büchern. Er gilt nicht mehr als Experte auf seinem Gebiet – er ist zweifelhaft geworden. Man erwähnt ihn besser gar nicht, oder wenn, dann: „Dieser Fisch-Quäler!“
Weitere hundert Jahre später jedoch, weil wir alle (mehr oder weniger) endlich begreifen, wie schädlich Zucker ist, empfinden wir nun jene als zweifelhafte Personen, die ihr Geld mit Zucker verdienten oder die in ferner Vergangenheit Rezepte mit Zucker auf Facebook gepostet haben. Nun fällt uns vielleicht ein, dass Professor Sowieso eine zeitlang zu Unrecht verunglimpft wurde – diese Aquariensache. Das regt mittlerweile niemanden mehr auf. Aber – war ihm nicht nachgesagt worden, er würde heimlich kleinen Kindern die giftigen, schädlichen Bonbons wegnehmen? Was für ein kluger Mann! Nun kann sein Bild wieder aufgehängt werden.
Wären wir weniger rigoros in unserem Urteil … Würden wir nicht fortgesetzt davon ausgehen, uns auf dem Höhepunkt der Erkenntnis zu befinden … Ja, dann wären wir keine Menschen. Seit Eva verbotenerweise vom Baum der Erkenntnis genascht hat, meinen wir ununterbrochen, wir sitzen absolut auf der Höhe der Urteilskraft. Und was die Vergangenheit angeht: die steht fest.
Glücksfaktor: Schwindendes Gedächtnis.