Dienstag hab ich Zug gekriegt


Damit meine ich jetzt nicht, dass ich die Bahn noch erwischt hab. Sondern dass es reichlich heiß war, im Auto die Klimaanlage lief – jawohl, Berbel HAT eine solche! – und mein rechtes Auge sich angegriffen fühlte. Anstatt jedoch rechtzeitig zu meckern, duldete es still und zeigte sich dafür am nächsten Morgen, dem Mittwoch, deutlich gerötet.

Das war nicht so sehr schlimm, der Löwe sagte, es sei das hübscheste rote Auge, das er je gesehen hat. Ich hatte das früher schon mal ab und zu und die Färbung ging immer schnell wieder weg.

Aber am Donnerstag leuchtete das Auge entschieden röter und begann, weh zu tun. Ich verkündete: „Gut, wenn es bis morgen nicht weg ist, geh ich vielleicht zum Arzt!“

Dann wachte ich in der Nacht auf Freitag gegen drei Uhr auf, weil das Auge rumorte. Ich hätte gern weitergeschlafen, doch der Schmerz beim Augenschließen ließ das nicht zu. Schließlich setzte ich mich in die Küche, um den Löwen nicht zu stören (der brauchte seinen Schlaf, fand ich, weil er Frühdienst hatte). Ich dachte über das Leben nach und betrachtete mit dem linken Auge, wie der Tag dämmerte. Geht ja zeitig los im Juni.

Gegen fünf kam der Löwe, der mich vermisst hatte, in die Küche. Er meinte, ich sollte mir einTaxi zum Arzt nehmen, lieber nicht selbst fahren. Oder am besten mich von jemand bringen lassen.

Ich wandte ein, ich könnte mich von niemand bringen lassen, denn derjenige würde dann sehen, dass unsere Küchenfenster nicht ganz sauber wären. (Ich hab einen Jungfrau-Aszendent. Jungfrau ist so pingelig.)

Also putzte der Löwe zwischen sechs und sieben Uhr morgens die Küchenfenster. (Er hat auch einen Jungfrau-Aszendent.) Dann machte er Frühstück und dann musste er zum Frühdienst.

Mit Frühstück im Bauch gewann ich den Eindruck, ich könnte sehr gut alleine fahren. In unserem idyllischen Städtchen gibt es eine umfängliche Augen-Praxis. Ich stellte mich mit Maske und Sonnenbrille an die Abstand-Schlange an. Sonnebrille, um niemanden zu erschrecken. Der Löwe hatte gemeint, ich sähe reizend, aber etwas blutrünstig aus. Ich fühlte mich eigentlich nicht bedrohlich, sondern ziemlich elend und kaputt.

Als ich endlich bei der Sprechstundenhilfe anlangte, die hinter einem Tresen mit Plastikschild saß, nahm ich die Sonnenbrille ab. Sie zuckte etwas zusammen und fragte, seit wann ich das hätte. Ich antwortete: „Seit Mittwoch.“

„Und dann kommen Sie erst jetzt?!“, fragte sie empört. „Und angemeldet sind Sie auch nicht?“

„Ich dachte, ich sei ein Notfall?“

Die Sprechstundenhilfe schüttelte den Kopf: „Heute haben wir keinen Notfalldienst“, sagte sie energisch und wandte ihr Gesicht dem nächsten Patienten zu.

Ich stolperte aus der Praxis auf die Straße. Manchmal hab ich den Eindruck, als hätten deutsche Sprechstundenhilfen ein wenig amerikanischer Polizist in sich. Sie verteidigen gnadenlos die Institution und verschwenden ihre Zeit nicht mit Freundlichkeit: Hüter der Schwelle, Engel mit dem Flammenschwert oder dem Maschinengewehr. Patienten lassen sich das vermutlich meistens gefallen, geduldig, wie ihr Name schon sagt. Und dran gewöhnt.

Sicher hat so ein Geschöpf seine Anweisungen – aber kann man das nicht eine Spur netter vermitteln? Eventuell Tipps geben, wohin der Leidende sich sonst wenden könnte, anstatt ihn einfach rauszuschmeißen?

Ich rief Maren an – Maren ist immer so praktisch – die gab mir die Adresse eines anderen Augenarztes, der jeden Morgen eine Stunde Notfalldienst hat. Dort erfuhr ich, ich hätte Zug bekommen und die Rötung würde von selbst vergehen, irgendwann. Augentropfen hat er mir auch gegeben.

Jetzt wird es wohl langsam besser und die Menschen sind gut zu mir. Ein Freund hat nachmittags mit mir eingekauft, Lydia hat mir Schokolade mit Kokoszucker geschenkt und gesagt, durch das Dunkelrot wäre mein Auge jetzt Türkis, und falls ich ihr je ein Mützchen stricken sollte, dann bitte in diesen Farben. Der Löwe hat mir abends aus einem alten Roman große Stellen über die Pest in London vorgelesen.

Glücksfaktor: nette Sprechstundenhilfen


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