Ein geselliger Tag


Gestern war viel los. Vormittags Mädels-Brunch bei Lydia, die Geburtstag hatte – nochmal herzlichen Glückwunsch!

Nachmittags trank ich bei meiner Nati Kaffee, abends fuhren wir beide zum Klassentreffen. Ein hübsches Restaurant, feines Essen, interessante Gespräche. In dieser Schulklasse bin ich vielleicht anderthalb Jahre lang gewesen, mich hat man doch, durch viele Umzüge, häufig umgeschult: Ich war chronisch die Neue.

Ich ging, glaube ich, als Erste, ich hatte den Löwen ja fast den ganzen Tag allein gelassen und wollte nach Hause. Hab mein Navi eingeschaltet, weil ich nicht genau wusste, wie ich zur Autobahn kam und weil ich nichts wiedererkannte. Es ist so lange her, alles sieht anders aus, besonders in einer dunklen, verregneten Novembernacht.

Das Navi erklärte, wie ich aus dem Gewirr der kleinen Straßen herausfand, die ausdruckslose, mechanische Frauenstimme nannte Straßennamen – und die kannte ich noch sehr gut. Da sprang mich plötzlich in der Finsternis die Erinnerung an, mit blutigen Krallen.

Die schrecklichste Zeit meines Lebens waren die Jahre zwischen elf und dreizehn. Nichts, was vorher oder nachher passierte, war jemals wieder annährend so schlimm. Ich war ohne Hoffnung, ich war voller Angst, und jeden Morgen, wenn ich aufwachte, dachte ich, das ist tatsächlich wahr, über verschiedene Arten des Selbstmords nach.

Erschreckend dünn sah ich aus, mit Armen und Beinen wie kahle Zweige, an denen Ellbogen und Knie als Knubbel herausstanden. Irgendetwas stimmte mit meiner Schilddrüse nicht, die ohnehin übergroßen Augen standen, im Profil, ein Stückchen vor dem Kopf. Auf dem Schulhof hörte ich: „Achje, da kommt der Frosch!“

Ich wurde gemobbt (nur nannte man das damals noch nicht so) und oft genug verprügelt oder gequält. In gewisser Weise konnte ich’s verstehen. Ich hätte mich selber gehasst, wenn ich nicht zufällig ich gewesen wäre.

Zwei Komponenten gab es in meinem Leben, an denen ich mich festklammern konnte, das waren Gott und mein Vater. Beide recht ähnlich, groß, mächtig, unberechenbar, aber voller Liebe zu mir, soviel stand fest. Gott erzählte ich von meiner Verzweiflung (jeden Abend ausführlich), meinem Vater lieber nicht; der hatte, schien mir, genug eigene Sorgen. Die beiden hinderten mich daran, irgendwo runterzuspringen oder mich vor ein Auto zu werfen. Ich ging davon aus, dass ich damit sowohl Gott als auch meinen Vater tief bekümmert hätte.

Also nahm ich mich zusammen, stand auf, putzte mir mit zusammengekniffenen Augen die Zähne, um nicht mein hässliches Gesicht mit den Glotzaugen im Spiegel sehen zu müssen und stürzte mich ergeben in den täglichen Jammer. Fuhr durch Nieselregen oder Sonnenschein mit dem Rad zur Schule, versuchte, mich auf Lernstoff zu konzentrieren, den ich langweilig fand, überstand die Pausen und wollte vor allem verschwinden – aus meiner Welt, aus meinem Körper, aus dem Leben.

Ich schrieb kürzlich über die Menschen der eigenen Vergangenheit, die in jedem Menschen stecken. Wo kann man sie erreichen? Ich würde dem unglücklichen kleinen Mädchen von damals gern die Haare aus dem Gesicht streichen, ihm die Nase putzen, es umarmen und sagen: „Glaub mir, in ein paar Jahren ist dies vorbei, und alles, was dann kommt, ist nur noch schön und wird immer schöner. Du wirst ein so interessantes Leben haben in Geborgenheit, du wirst so viel geliebt werden! Und wenn du ziemlich alt bist und dich umdrehst und zurückblickst, wirst du voller Dankbarkeit sein, bitte, glaub mir das!“

Vermutlich würde sie sich freirangeln und etwas Mürrisches, Renitentes äußern. Sie war wirklich kein liebenswertes Kind. Außerdem ist die Ankündigung: Das dauert nur noch Jahre! wenig hilfreich, wenn jemand mitten im Elend steckt.

Glücksfaktor: Nach Hause zu kommen zu einem Löwen, dem du alles erzählen kannst, der es gut versteht und die richtigen Worte findet und dir einen großen Schnaps eingießt …

 


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