Ein halber Hund – Berry


Als die Hundekatze Billie uns verlassen hatte, begegneten Arne und ich Muckel und ihren Tieren. Sie besaß zwei riesige Rottweiler, Kraut und Berry, und zwei Kater. Der schwarze Kater hieß Tubbs und der blonde Sonny – nach den beiden Miami Vice-Ermittlern.

Muckels Problem war: sie suchte dringend eine Wohnung, weil sie sich von ihrem Freund getrennt hatte und ausgezogen war. Im Sommer konnte sie mit den Tieren zelten, im Herbst, als wir sie kennenlernten, wurde es schwierig. Kein Vermieter mochte sich auf ihren Zoo einlassen. Sie ging sogar ins Fernsehen damit, in eine Nachmittags-Talkshow für Verzweifelte. Danach bekam sie ein Angebot, als Fotomodel zu arbeiten und einige Heiratsanträge, aber keine Wohnung.

Arne war inzwischen vierzehn und wir beide empfanden mehr und mehr, dass wir aus Hamburg weg wollten und aufs Land. Uns hatte die Sehnsucht nach Stau auf der Autobahn, Elektrozäunen um ohrgepircte Kühe und einsame verregnete Sonntage in der Provinz gepackt. Wir beschlossen, mit Muckel gemeinsam etwas zu suchen. Eigentlich allerdings kannten wir sie kaum. (Und viele kluge Menschen rieten uns ernsthaft davon ab, mit einem unbekannten Menschen eine Wohngemeinschaft zu gründen.) Aber Arne wollte mit den Katern zusammenziehen und ich mit den Hunden. Außerdem hielten wie Tierliebe für einen wesentlichen Faktor des gegenseitigen Verstehens.

In diesem Herbst suchten wir also eine entsprechende Bleibe. Immer noch waren vier Haustiere unterzubringen, doch gemeinsam waren wir finanzstärker und konnten uns etwas Größeres leisten.

Am 31. Oktober starb Kraut. Ich besuchte Muckel, die mit verweinten Augen dasaß und seine große Pfote hielt, bis es vorbei war. Gleich hinterher setzte sich Berry auf die Hinterpfoten, hob die Schnauze in die Luft und heulte sehr lange und sehr laut. Dann machte er sich daran, seinen toten Bruder sorgfältig und gründlich abzulecken, vom Kopf bis zur Stummelschwanzspitze. Ich wusste bis dahin nicht, dass Tiere auch so eine Art Leichenwäsche betreiben.

Nun waren wir nur noch zu sechst und fanden schließlich eine Doppelhaushälfte im Landkreis Pinneberg. Arne fuhr mit dem Bus zur Schule in Elmshorn, Muckel blieb im Stau auf der A23 stecken, wenn sie morgens nach Hamburg zu ihrem Job fuhr. Die Kater lebten ihr eigenes Leben, ab Frühjahr mehr draußen als drinnen – sofern sie nicht in Arnes Bett lagen.

Berry und ich mussten sehen, wie wir uns arrangierten. Kraut war sanft, freundlich und ein wenig einfältig gewesen, Berry war hochintelligent und schwierig. Er besaß ein interessantes, linksseitiges Grinsen und einen sardonischen Humor, er war sarkastisch, zynisch und ein exzellenter Lügner. Als wir uns das erste Mal begegneten, knurrte er mich tief und bedrohlich an. Ich klebte ihm postwendend eine, dass die Schlappohren flogen. Das Problem war, dass wir uns beide für den Leithund hielten. Aber nach zwei Wochen verstanden wir uns eigentlich recht gut. Er war, wie ich, in den Zwillingen geboren und quatschte gern.

Ich ging morgens lange mit ihm und mittags kurz. Wenn Muckel nach Hause kam, machte sie noch einen weiteren langen Spaziergang mit ihrem Hund. Sie selbst war sehr klein und zart – wenn Berry losgaloppierte, konnte sie ihm nicht standhalten und hing wie ein flatterndes Taschentuch hinten an der Leine. Er war ein Raufbold und liebte es, andere Hunde zu vermöbeln. Eins hatte Muckel ihren Hunden allerdings beigebracht und daran hielt sich Berry: Wenn ein Wildtier uns begegnete, ein Hase oder ein Reh, dann setzte er sich sofort, Plumps, auf seinen Po und verharrte so, bis das Waldgeschöpf sich entfernt hatte. Das hätte jeden Förster begeistert. Andererseits war das auch so ungefähr das einzige Kunststück, das der Hund beherrschte.

Er war ein Pascha und sehr verwöhnt, er schlief in Muckels Bett den Schlaf des Gerechten. So kam es, dass bei uns im Haus innerhalb weniger Wochen zweimal eingebrochen wurde – und ich war der Einzige, der aufwachte und es hörte. Die Einbrecher*Innen hatten das Wohnzimmer verwüstet und unsere zweieinhalb Wertgegenstände mitgenommen. Meine Versicherung zahlte, wollte indessen nach dem zweiten Mal meinen Vertrag kündigen, es sei denn, ich würde mir eine Alarmanlage anschaffen.

Daraufhin begann ich ein Gespräch mit unserem großen, gefährlichen Rottweiler. Ich erklärte ihm, er müsse im Wohnzimmer schlafen und uns beschützen. Wir klebten ein entsprechendes Bild des Hundekopfes an die Balkontür. Unter dem Bild stand: HIER WACHE ICH!

Berry musste also Muckels Bett verlassen und die Nächte im Wohnzimmer verbringen, auf einem schönen Lager aus zusammengelegten Decken. Das fand er doof. Wenn wir in unseren Zimmern oben alle eingeschlafen waren, begann er, laute Lieder zu singen – Seemannsballaden der Einsamkeit. Einer von uns quälte sich dann aus dem Bett, stolperte die Treppe hinunter und warf einen der Schuhe, die unten neben der Treppe standen, nach dem Hund. Dann war eine halbe Stunde Ruhe bis zum nächsten Lied. Manchmal lag unser Beschützer morgens schmollend auf seinen Decken in einem Meer von Schuhen.

Die Nachbarn, die uns sowieso aus verschiedenen Gründen nicht liebten (ich erfuhr zufällig, dass man uns ‚die beiden Lesben mit der Mordbestie‘ nannte), hatten verständlicherweise etwas gegen das nächtliche Geheul. Nun besuchte Muckel mit Berry die Hundeschule. Dort war er mit Abstand der Älteste – aber er lernte schnell, und es stellte sich heraus, dass seine ewige miese Laune im Grunde Unterforderung gewesen war. Je mehr er lernte – bei Fuß gehen mit einer anfänglichen netten kleinen Kurve um Muckels Beine – Sitz! (auch ohne Wildkarnickel) Leg dich! Oder etwas erst aufzuheben, wenn das Kommando kam – desto glücklicher und ausgeglichener wurde er. Offenbar der geborene Militarist, entzückten ihn Befehle und seine Fähigkeit, sie auszuführen. Wenn ich mit ihm spazierenging, übten wir, was er schon gelernt hatte oder neue Aufgaben – er wurde richtig süchtig danach. Sein Grips, der jahrelang nur dazu benutzt worden war, sich böse Streiche auszudenken, konnte endlich nutzbringend verwertet werden. Das machte uns alle zufriedener.

Berry sang nachts keine Lieder mehr – ganz manchmal jedoch, vermutlich, wenn er etwas Verdächtiges  gehört hatte, stieß er ein kurzes, tiefes Gebell aus. Er war nun die Alarmanlage. Das Haustier bewachte die Haustür.

Im Sommer machten Muckel und ich viele Wochenend-Ausflüge mit unserem Hund. Er saß auf dem Rücksitz, schleckte abwechselnd jeder von uns über das Ohr und war sehr zufrieden mit seinem Harem. (Ich glaube, er hielt sich immer noch für den Leithund. Aber er gab uns aus Gutmütigkeit und Galanterie das Gefühl, wir hätten das Sagen.)

Natürlich beging er immer noch seine Gaunereien. An einem Samstag kamen Muckel und ich gemeinsam vom Einkaufen und fanden die kleine Siedlung in Aufregung. Polizei war auch schon dabei. Unsere Mordbestie sei über zwei Hunde hergefallen, die mit ihrem Frauchen nur zum Auto wollten, und habe beide gebissen!

Wir entgegneten empört, die Mordbestie säße eingeschlossen im Haus. Begleitet von der Polizei und drei, vier Ungläubigen schlossen wir die Tür auf. Ja, da saß der brave Hund auf seinen Decken, die blütenreine Unschuld im Gesicht, erstaunter, schiefer Kopf, hochgestellte Ohren: „Ja, bitte? Was ist denn passiert?“ 

Die Polizei und die Nachbarn entschuldigten sich verlegen und gingen. Ich bemerkte Berrys schiefes Grinsen. Tage später entdeckten wir, dass er in der Lage war, die Terrassentür mit der Schnauze aufzuhebeln, hindurchzuflutschen, nach einer Missetat zurück zu flutschen und die Tür mit der Schnauze wieder zuzudrücken.

Tubbs blieb eines Tages verschwunden und Sonny lag wenig später überfahren auf einer Straße ganz in der Nähe. Muckel holte eine kleine Katze aus dem Tierheim, Selena. Lenchen arbeitete weiter an unserer Unbeliebtheit, indem sie die Nachbargärten als Katzenklo benutzte und schwanger nach Hause kam. („Die haben ihr Viech nicht kastrieren lassen! Das ist doch typisch!“)

Lenchen warf fünf entzückende Katzenbabys – was Berry auf seine alten Tage zum Onkel machte. Er meisterte das mit Bravour, obwohl sie gerade ihn dauernd drangsalierten. Er passte auf sie auf, leckte sie ab, ließ sie auf sich herumkrabbeln und mit seinen Schlappohren spielen.

Berry war schon älter gewesen, als wir ihn kennenlernten. Er wurde, für einen so großen Hund, ungewöhnlich alt, vierzehneinhalb Jahre. Zum Ende seines Lebens bekam er Rheuma und konnte nicht mehr den Kopf nach unten bringen, um aus seinem Napf zu fressen. Wenn wir den auf ein Tischchen stellten, warf er ihn herunter. Also gingen wir dazu über, den Hund zu füttern, mit einem großen Löffel. Und im allerletzten Vierteljahr seines Lebens schlief Muckel wieder Arm in Arm mit ihm, indem sie neben ihm auf zusammengelegten Decken auf dem Boden im Wohnzimmer übernachtete …

Ich kann nicht sagen, dass Berry mein Hund war, denn er gehörte ja Muckel. Aber über einen längeren Zeitraum war er mindestens zur Hälfte mein Hund.

Glücksfaktor: Besser ein halber Hund als gar keiner!

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