Mein Vater war ein sehr einsamer kleiner Junge.
Seine Mutter war direkt nach seiner Geburt getürmt – mit dem Prokuristen ihres Mannes, denn, wie sie sagte: „Es reist sich besser in männlicher Gesellschaft.“
Die Seiferts waren eigentlich renommierte Bürger in Altenburg, ihnen gehörte die große Drogerie in der Baderei. Nun wurde geklatscht und meine Urgroßmutter, also Paulchens Großmutter Wilhelmine, musste die Nase sehr hoch tragen. Das war vorher schon nicht leicht gewesen.
Ihr Mann, Fürchtegott Seifert mit dem zweigeteilten Bart, hatte einen an der Waffel und saß seit einigen Jahren in der Klappse. Das war ja auch peinlich. Ihr jüngerer Sohn Ernst machte seinem Namen keine Ehre, indem er zum fünften Mal verheiratet war – viermal geschieden! Das im Jahr 1911.
Nun auch noch die junge Frau ihres Ältesten, Emil, durchgebrannt. Emil sollte eigentlich die Drogerie führen. Saß jedoch meistens klimpernd am Klavier und trank den gesamten Rotwein aus dem Keller. Und zu allem Übel der tüchtige Prokurist weg!
Wilhelmine, für damalige Zeiten eine Gigantin mit 1.80 Körperhöhe, länger als alle Zeitgenossen, führte den großen Haushalt mit fünf Hausmädchen und Kutscher, leitete die Drogerie (einer musste es ja machen) mit zwei Verkäufern und erzog, so gut es ging, nebenbei das Paulchen. Das Kind war viel zu traurig und altklug und las mit sechs Jahren schon immer Bücher für Erwachsene.
Schließlich bekam der Junge, um mehr draußen rumzutollen, um einen Kameraden zu haben und weitere Kameraden zu finden, einen Hundewelpen.
Das war Athos. Denn es war zu erwarten, dass seine kurzen Ohren sich zu schulterlangen Locken auswachsen würden, der Frisur eines Musketiers.
Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Dieser Hund durfte im Bett seines Herrn schlafen – danach fragte keiner, es wurde dem Kind überlassen.
Als Großmutter Wilhelmine jedoch eines Tages bemerkte, dass Paulchen gemeinsam mit Athos aus dem Hundenapf futterte, wurde sie böse. Diese angestrebte Kameradschaft ging zu weit. Übrigens hatte sie auch nicht dazu geführt, wie erhofft, dass der kleine Paul sich mehr mit anderen Kindern abgab. Stattdessen blieb Athos sein einziger Kumpel.
Nun kam die härtere Methode: Der Junge wurde in einem Internat angemeldet. Da durfte der Hund nicht mit und sollte deshalb abgeschafft werden.
Darüber informiert, weinte und brüllte mein achtjähriger Vater einen Tag und eine Nacht lang, bis er heiser war und darüber hinaus. Dann dufte Athos im Haus bleiben. Eins der Hausmädchen hatte sich erbarmt und angeboten, sich eben um das Hundchen zu kümmern, Gassi-Gehen und füttern – gegen ein sehr geringes Aufgeld – solange der Junge nicht zu Hause war.
Athos und Paul verabschiedeten sich herzzerreißend voneinander und tobten entsprechend vor Wiedersehensfreude bei jedem Ferienbeginn.
Als mein Vater 18 war, schmiss er die Schule, statt wie erwartet Abitur zu machen und Pharamazie zu studieren. Er klemmte sich Athos unter den Arm, fuhr nach Berlin zu seiner Mutter, die inzwischen ein gutgehendes Korsagengeschäft führte und ließ sich von ihr für Volljährig erklären – eigentlich ziemlich unmöglich, da sie kein Sorgerecht für ihn besaß, aber sie war befreundet mit einem entsprechenden Anwalt und Notar, der das Kunststück hinbekam. Vielleicht tat sie das mehr, um die Seiferts nochmal zu ärgern als für ihren Sohn, den sie kaum kannte.
Und mein Vater zog mit seinem Spaniel in ein Zimmer in der großen Stadt und begann sein Leben als Erwachsener – freischaffender Künstler – mit Hund …
Glücksfaktor: Einer für beide, beide für einen.