Ernst hat Tinnitus


sagt er. In seinen kleinen runden Plüschohren erklingt neuerdings ein störendes Brummen und Rauschen – oder Rascheln? Oder Summen? Egal, es macht ihn ganz verrückt. Sagt er.

Ach Ernst – ob das erblich ist?

Ich hab Tinnitus, solange ich lebe. Was, glaube ich, eher ungewöhnlich ist. Ich habe gelesen, dass ‚Chronischer Tinnitus‘ einer ist, der länger als drei Monate andauert. Was ist mit länger als fünfzig Jahre? Ich hatte Tinnitus, bevor es Tinnitus gab, glaube ich. 

Als ich noch sehr klein war, versuchte ich, meinen Eltern begreiflich zu machen, was ich höre. Sie gaben sich redlich Mühe, mir zu helfen. Ich erinnere mich, dass mein Vater das Fenster öffnete und schloss, an der Heizung drehte, das Radio ausschaltete und immer fragte, ob es jetzt weg wäre. Leider nicht. Ich quetschte mein Ohr an seins – er vernahm nichts. Ich hielt mir, so fest ich konnte, beide Ohren zu – es wurde lauter. Da merkte ich, dass es nur in meinem Kopf stattfand.

Tatsache ist, ich kenne es überhaupt nicht anders und kann eigentlich gut damit leben. Ich überhöre viel, das ist wahr. Vielleicht ist das nicht immer verkehrt. Manche Töne, vor allem sehr hohe, dringen nicht durch den Tinnitus durch. Dadurch bin ich schreckhaft – ich merke oft nicht, wenn jemand auf mich zukommt, bevor ich ihn sehe. Andererseits höre ich hin und wieder ganz klar, auch leise Geräusche.

Der Tinnitus ändert sich immer mal wieder, er ist gewissermaßen beweglich. Mal ist er leiser – dann, vor allem bei Stress, viel lauter. Mal ist er schriller und mal dumpfer. Ab und zu gibt es ein neues Geräusch, das schließlich wieder verschwindet.

Manchmal klingt es wie eine Sirene oder wie viele Maschinen, manchmal wie ein Zug und hin und wieder wie schwere Kirchenglocken.

Ich kann damit schlafen, ich kann damit Ruhe haben. Ich kenne es nicht anders.

Beim Fernsehen verstehe ich wenig. Früher war es anstrengend, dabei neben mir zu sitzen, weil ich dauernd wissen wollte: „Was hat der gerade gesagt?“ Und es wurde dadurch nicht besser, dass Schauspieler in den letzten Jahren zunehmend nur noch vor sich hin murmeln.

Was hat der gerade – ?

Aber der kluge Löwe hat sich was schicken lassen, bestimmte Kopfhörer, die ich über meine Ohren setze beim Fernsehen, dann verstehe ich – naja, nicht alles. Dazu murmeln sie zu sehr. Aber viel. Wenn ich mich neben ihn setze am Sonntagabend zum Tatort oder so, dann fragt der Löwe: „Wo sind deine Öhrschen?“

Meistens holt er sie mir auch und stellt sie sogar an. Es wohnt eine Frau darin, die sagt: „Connected!“ und „Power on!“ – und dann kommt das meiste durch den Tinnitus durch.

Ernst möchte nun bitte auch Öhrschen. Am liebsten keine schwarzen, sondern rote.

Bevor wir uns diesem Problem widmen können, stellt sich jedoch heraus: Ernst hatte gar keinen Tinnitus. Er hatte Mariechen, eins unserer überwinternden Haus-Marienkäferchen. Die versuchte, in seinem kleinen runden Plüschohr ihren Winterschlaf zu halten. Ist jetzt allerdings hervor gekommen, um zu fragen, wie dieser schreckliche Film ausging und ob sie bitte einen Tropfen Honig haben kann?

Glücksfaktor: Überhaupt Ohren zu haben. Ich liebe Ohrringe …

 

 

 


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