Ernst träumt


In dem Roman ‚Spiegelbild im goldenen Auge‘ von Carson McCullers sagt der Hausboy Anacleto zu seiner Herrin: „Wie verschieden doch Träume sind! Nachmittags auf den Philippinen, wenn die Sonne ins Zimmer scheint und die Kissen feucht sind, träumt man ganz anders als nachts im Norden, wenn es schneit …“

Man träumt unterschiedlich nach schwerem Essen oder mit leerem Magen, nach einem Gruselfilm, nach einem langen Spaziergang, nach einer Enttäuschung, nach einer Erfüllung. Und dann gibt es noch Tagträume, bei denen man nicht schläft, sondern seine Wünsche von der Leine lässt.

Ernst hat natürlich auch so seine Träume. Manchmal nur: „Wenn doch schon Ostern wäre!“ oder „Wir besuchen jetzt ganz plötzlich Tante Ulli, da freut sie sich und wir gehen mit Sosolade nach Hause!“

„Ernst, die Schokolade macht sie nur zu besonderen Gelegenheiten, die hat sie doch nicht Zuhause gestapelt. Sie ist ja kein Bonbonladen!“

„Ach so?“

Aber am häufigsten: „Wenn ich doch ein richtiges Motorrad hätte und damit fahren könnte!“

Das Problem ist, man kann zu Ernst nicht sagen: „Wenn du groß bist.“ Plüschbären können nur charakterlich wachsen, nicht körperlich.

„Oder wenn der Löwe-Papi mich mal mitnimmt auf seinem Motorrad?“

„Nein, Ernst, deine Ärmchen sind zu kurz, um dich vernünftig an ihm festzuhalten. Das ist viel zu gefährlich.“

„Aber wenn man mich festbindet?“

„Nein! Ernst, so fest kann man dich gar nicht binden. Und falls doch, ist das auch wieder gefährlich … Nein.“

„Aber wenn – ?“

„Ernst! NEIN!“

Im Schaufenster einer Versicherung in der Straße Großer Sand steht was. Das ist ein ganz, ganz cooles Bike, genau in Ernst-Größe. Irgendwie nice. Aber das ist wohl Deko?

Bleibt nur das Träumen. Man guckt in den Himmel, der so grau ist wie bisher das ganze Jahr über. Noch sind keine Blätter an den Bäumen. Fast immer weht ein kalter Wind. Aber wenn nun diese Wolken weggepustet werden und überall blauer Himmel kommt und Sonne? Und wenn Ernst was gewinnt? Manchmal gewinnt man und weiß gar nicht, wieso. Mal angenommen, Ernst hätte ein Motorrad gewonnen, zufällig in genau seiner Größe. So wie das im Schaufenster …

Dann bringt der Löwe-Papi ihm bestimmt bei, wie man damit fährt. Erstmal im Garten, da braucht er wahrscheinlich keinen Helm. So ein bisschen weiß Ernst schon, wie das geht. Man dreht immer an den Griffen, das hat was mit der Kupplung zu tun. Brummbrumm! Mit den Füßen muss man aber auch was machen. Und man darf nicht in Tüdel kommen. Links ist für Schalten, rechts für Beschleunigen und Bremsen. Oder? Brummbrumm! Ellbogen leicht gebeugt – Brummbrummbrummbrumm … Ernst fährt los. Ui, da hopst das Rad, weil er beim Kuppeln das Gas nicht runter genommen hat … Brummbrummbrummbrumm … immer rund um Tante Lydias Garten und dem kleinen Teich ausweichen! Ernst fliegen die Ohren.

Nach einer Weile möchte er gern mal eine Pause machen. Absteigen. Sich die Nase putzen. Aber wo ist der Ausschaltknopf? Hilfe! Ernst will langsamer werden, doch das Motorrad fährt und fährt, Brummbrumm Brummbrumm, immer schneller! Der Löwe-Papi ist gar nicht da – keiner ist da. Muss er denn jetzt bis in alle Ewigkeit um den Garten kreisen? Oder bis das Benzin alle ist?

Da fährt das Motorrad gegen den Pfeiler vom Gartenhäuschen, es gibt einen mordsmäßigen Ruck – Ernst fliegt im hohen Bogen runter – und landet auf einem Teppich. Das ist kein Gras. Das ist der rote Teppich, den der Löwe-Papi mal vor ganzlangher in Istannbull in einem Bahsahr gekauft hat und durch die Türkei geschleppt. Der liegt aber nicht im Garten, sondern im Wohnzimmer …

Ach! Ernst ist vom Sofa gefallen, da war der Traum aus. Er hat sich gar nicht weh getan. Der Himmel ist immer noch grau, es regnet sogar. Aber bitte, er weiß jetzt, wie es ist, Motorrad zu fahren.

Glücksfaktor: im richtigen Moment aufwachen …

 


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