Der Opi von Ernst ist gestorben.
Man kann nie wieder zu ihm auf den Schoß oder ihn was fragen oder kichern, weil er was Witziges erzählt. Er war ein besonders lieber Opi.
Ernst weiß viel aus dem Leben vom Opi, weil der gern davon erzählt hat, was ihm alles passiert ist.
Beinah hätte es ihn gar nicht sehr lange gegeben, denn als er noch ein kleiner Junge war, neun Jahre alt, da ist seine Mama im Krieg mit ihm und seinen beiden kleinen Brüdern im Winter in ganz viel Schnee nach Westen geflohen. Sie wollten auf ein großes Schiff, das hieß Wilhelm Gustloff und sollte sie in Sicherheit bringen, nach Kiel. Die Mama stand vor dem großen Schiff in schrecklichem Gedränge, ein kleiner Junge auf dem Arm, einer in einer vollgepackten Kinderkarre und der kleine Dieter – das war später der Opi – an der Hand. Und dann haben sie ihnen gesagt, das Schiff ist schon mehr als voll und sie können nicht mehr mit, leider. Da hat die Mama geweint und der kleine Dieter hat mitgeweint. Sie sind also weiter durch den Schnee zu Fuß nach Westen. Immerhin sind sie in Schleswig-Holstein angekommen – aber die Wilhelm Gustloff ist untergegangen und ganz viele Menschen, vor allem Mütter und Kinder, sind ertrunken.
Der Opi war sein Leben lang fleißig. Das war gar keine einfache Zeit nach dem Krieg und er hat lauter verschiedene Sachen gearbeitet. Gelernt hat er Hufschmied, weil er Tiere so gern mochte und weil er Eisen mochte und weil er sehr stark war. Aber dann gab es bald viel mehr Autos als Pferde, man brauchte Hufschmiede nicht mehr sehr dringend. Da hat der Opi als Schweißer und Schlosser gearbeitet, das war auch was mit Eisen.
Dann brauchten sie im Sauerland Männer, die unter der Erde die Schätze rausholen, ganz tief unten. Da ist der Opi in den Bergbau gegangen. Im Sauerland hat er eine Frau kennengelernt, als er zum Tanzen ging, die hieß Marlene, hatte hellgrüne Augen und dunkelbraune Locken und eine hübsche kleine Nase und sie konnte wunderbar kochen. Das war nämlich ihr Beruf. Das ist dann die Omi geworden und sie kam mit, als der Opi zurück nach Schleswig-Holstein gegangen ist.
Da hat er bei der Eisenbahn gearbeitet, in einem Beruf, den früher alle kleinen Jungen gern haben wollten – er war Lokführer. Noch später wurde er Busfahrer. Da kannten ihn ganz viele Fahrgäste und haben sich gefreut, wenn er an dem großen Steuerrad saß, weil er immer guter Laune und witzig war. Nach langen Jahren ist er in seiner kleinen Heimatstadt immer wieder Leuten begegnet, die ihn darauf ansprachen und ihm die Hand schüttelten und ihm auf die Schulter klopften.
Der Opi und die Omi hatten einen einzigen kleinen Jungen, auf den sie riesig stolz waren, der hatte die hellgrünen Augen von seiner Mama und den Humor von seinem Papa: Das ist natürlich der richtige Papi von Ernst.
Omi und Opi hatten viele Verwandte und viele Freunde. Sie haben gerne eingeladen zu dem feinen Essen, das die Omi gekocht hat und sie sind, nachdem sie im Ruhestand waren, sehr viel gereist, nach Italien und Ungarn und Österreich, oft gemeinsam mit Freunden.
Der Opi hat besonders gern in seinem Garten gearbeitet und Obst und Gemüse geerntet und schöne Blumen gezüchtet. Er hat Singvögel beobachtet und wusste unglaublich viel über sie. Er hat auch immer gern mit den Händen gearbeitet. Im Keller gab es eine Werkstatt mit ganz, ganz vielen verschiedenen Maschinen und Werkzeugen an den Wänden, da hat er alles mögliche gebastelt. Beispielsweise einen großen Schwenk-Grill mit einem runden Schaukelgitter und mit hübschen Schnörkeln.
Die Omi ist leider früher gestorben und hat dem Opi eine Weile sehr gefehlt. Da ist er bald darauf in eine schöne kleine Wohnung in einer Alten-Residenz gezogen, wo er sich richtig wohl fühlte. Das Schönste für ihn war vielleicht, dass direkt unter seinem Balkon die Schienen liefen und die Bahn vorbeigezischt ist, besonders morgens und zum Feierabend. Das hätten andere Menschen vielleicht nicht so gut gefunden. Aber er, mit seiner Eisenbahner-Vergangenheit, saß gern in der Nachmittagssonne und guckte sich die Züge an.
Er hatte immer noch viele Freunde von früher und er machte Ausflüge und feierte Feste. Und er war immer noch enorm stolz auf seinen Sohn.
Der Opi ist 87 Jahre alt geworden und er war, alles in allem, mit seinem Leben ausgesprochen zufrieden. Es gab sehr viele Menschen, die ihn gern hatten, weil er ein Gute-Laune-Mann war.. Er gehörte zu den seltenen Leuten, die prima mit Geld umgehen können und damit nie in Schwierigkeiten geraten – und die trotzdem gern großzügig sind.
Der Opi ist nicht an einer Krankheit gestorben. Er ist eingeschlafen, weil sein Leben zu Ende war.
Glücksfaktor: Solche Menschen.