FRIEDENSNACHT 4. Teil


Johnny schlug meinen Mantelkragen hoch, setzte mir seine Mütze auf und zog den Schirm fast bis auf meine Augen. »Jetzt regnet deine Nase nicht mehr voll. Komm, ich bringe dich nach Hause…« Und dann zog er mich hinter sich her.

Es tat weh zu laufen, der Schmerz pochte in meinem Knie. Es kam immer mehr Wind auf, mein Haar flatterte wie eine Fahne hinter mir her.

Vor unserer Gartenpforte, bei der Straßenlaterne, blieb Johnny stehen. »Behalte meine Mütze man einstweilen, du kleiner Affe, der Gartenweg ist ja noch lang«, sagte er und grinste ein bisschen.

Sein Haar war ganz dunkel vor Nässe, und wenn er zwinkerte, tropfte der Regen aus seinen Wimpern. »Und falls du Lust hast, kannst du gern Heiligabend zu uns kommen. Wir haben nur Sülze und Grünkohl, aber wir singen und geheizt ist auch…«

Dann drehte er sich um und verschwand in der Finsternis – denn inzwischen war es überall vollkommen dunkel geworden, es wurde schon bald fünf.

Ich sah hinter ihm her und war kurz davor, noch mal zu rufen und ihn nach seiner Adresse zu fragen. Ich dachte, vielleicht ist es wirklich nett bei Familie Behrens und besser als alleine sein?

Als ich unseren Hausflur betrat, hörte ich Musik. Jemand spielte auf unserem Klavier – keineswegs Weihnachtsmusik, sondern den dritten Satz aus Schumanns Frühlingssinfonie.

Ich roch Zigarettenrauch, und während ich hastig an der Garderobe vorbeihumpelte, sah ich aus den Augenwinkeln einen Militärmantel samt Mütze daran hängen. Zuerst dachte ich, Papa oder Harro hätte doch noch Heimaturlaub bekommen. Aber so meisterhaft spielt niemand aus meiner Familie Klavier, auch Harro nicht, ob nüchtern oder betrunken. Und Gerda schon gar nicht.

Ich warf die Glastür zum Wohnzimmer auf und blieb atemlos stehen. Da saß ein wildfremder Mensch am Klavier, eine Zigarette im Mundwinkel, hörte auf zu spielen und blinzelte mich erstaunt durch den Rauch an.

Meine Stiefmutter hielt ein Likörgläschen in der Hand, rauchte auch eine Zigarette und sie sah mich noch viel erstaunter an, sie wirkte geradezu bestürzt. Sie lag hingegossen auf der Ottomane, dicht vor ihrer Nase auf dem Tischchen brannten mehrere Kerzen, dabei hatten wir gemeinsam beschlossen, damit ganz sparsam zu sein für Weihnachten.

»Was willst du denn hier?!«, rief sie mit ihrer scharfen, hellen Stimme.

Sie hatte ein gefaltetes Tuch um ihre Stirn gebunden wie ein Indianer, das sollte wohl malerisch sein.

»Du bist doch beim Geburtstag?«

Und dann sprang sie hoch, riss mir Johnnys Mütze vom Kopf und schrie: »Was ist passiert? Wie sieht denn dein Haar aus, das ist ja ganz nass …?«

Wenn es nass ist, dann bedeutet das, es steht in großen Locken um meinen Kopf, was mich besonders gut kleidet.

Ich lächelte den fremden Mann an.

Er trug eine Leutnantsuniform, soviel ich sehen konnte. Jetzt stand er höflich auf, legte seine Zigarette in den Aschbecher, verbeugte sich ein wenig und kam auf mich zu.

»Das ist meine – das ist Helene. Die Tochter meines Mannes«, musste Gerda an dieser Stelle anmerken.

»Gnädiges Fräulein!«, sagte der Mann, reichte mir die Hand und tippte leise seine Absätze aneinander. Er lächelte auch. Und weil Gerda, diese Pflanze, ihn nicht vorstellte, machte er das selbst: »Mein Name ist Curd Herder. Ich kenne Ihre Stiefmutter vom Alsterpavillon. Ich war der Samariter, der sie nach der Schlacht nach Hause brachte. Sie hat gewiss davon berichtet. Und seitdem korrespondieren wir ab und zu.«

Das also war C. Herder, die Schreiberin der vielen dunkelgrünen Briefe, die hilfsbereite Dame, von der Gerda mir erzählt hatte!

Oh, mehr noch: das war die Freundin, mit der sie den Heiligen Abend verbringen wollte, weil ich ja kein Kind mehr war und allein zu Hause bleiben konnte.

Ich dachte immer, sie hieße Charlotte oder Cäcilie. Und nun hieß sie also Curd.

Ich murmelte: »Mein Knie ist kaputt«, stellte die Beine hübsch gerade dicht nebeneinander und zog meinen Rock sehr hoch.

Beide betrachteten meine Beine, Gerda zerrte sofort den Rock wieder runter.

»Du musst unverzüglich ins Bett, das Kind muss ins Bett!«, fand sie, nachdem sie mir kurz eine Hand auf die Stirn gelegt hatte.

»Ich möchte aber erst etwas essen. Die Feier ist ausgefallen, ich hab nichts bekommen. Ich geh zu Erna, damit sie mir etwas macht …«, wandte ich ein.

»Erna ist nicht da«, schnappte Gerda mich kurz an. »Sie besucht heute Abend ihre Schwester in Ohlsdorf.«

Da blieb mir glatt der Mund offen stehen. Erna besuchte Ida? Ohne, dass ich es vorher wusste? Obwohl nicht ihr freier Abend war!

Ich musterte noch einmal den Klavier spielenden Samariter, diesen Leutnant Herder. Er hatte dunkles, tief gescheiteltes Haar und einen kleinen Bart auf der Oberlippe. Seine Nase war schön, schmal, etwas gebogen, mit feinen, länglichen Nüstern. Und seine Augen blickten traurig, groß und dunkelgrau. Ich verstand ganz und gar, weshalb Gerda den Heiligen Abend mit ihm verbringen wollte.

Andererseits verstand ich nicht im Geringsten, wieso er dasselbe mit meiner Stiefmutter vorhatte. Glaubte er auch, ihr Haar sei goldblond?

»Ich mach mir selbst etwas zu essen und geh dann gleich ins Bett«, schlug ich friedfertig vor.

Beim Hinausgehen warf ich einen Blick zu der Kommode mit unseren Familienfotos, in der Mitte ein großes, ledergerahmtes Bild von Papa in Uniform. Er sieht darauf sehr, sehr schön aus mit seinem silbergrauen Vollbart. Nur ist er eben älter als Curd Herder.

Gleich darauf klingelte unser Fernsprecher im Flur. Weil ich daneben stand, hakte ich den Hörer ab und nahm das Gespräch an.

Das war Frau Degenhardt, die fragte, ob ich gut nach Hause gekommen sei. Hedi sprach auch noch mit mir, bedankte sich für die Handschuhe und entschuldigte sich für ihren Ton am Nachmittag – sie wäre außer sich gewesen, das müsse ich verstehen. Beide erläuterten mir nicht, ob und wie sie sich nun geeinigt hätten. Durfte Hedi nie wieder einen Brief mit Monty wechseln oder konnte sie seine heimliche Braut bleiben?

Vielleicht war es auch klüger, das am Telefon nicht zu äußern. Kürzlich stand in der Zeitung, dass englische Spione unsere Fernsprecher womöglich abhören können, sogar private Gespräche, weil sie in denen politische Inhalte vermuten würden Wobei ich mir so etwas kaum vorstellen kann.

In der Küche bemerkte ich, dass Erna von meiner Stiefmutter wohl ebenso dringlich aus dem Haus gejagt worden war wie ich, denn alle Behälter mit Grieß und Mehl und gelben Erbsen standen noch auf dem Küchentisch, weil sie darin ja nach Käfern suchen wollte. Von sich aus hätte Erna das niemals so stehen lassen.

Als ich mir eine Scheibe Brot dünn mit Griebenschmalz bestrich, kam Gerda hinterher. Vorgeblich, um Teewasser aufzusetzen, aber in Wirklichkeit wollte sie natürlich mit mir reden.

»Helene, was ich noch sagen wollte – du bist ja kein so kleines Kind mehr, dass du es deinem Vater petzen wirst, wenn ich harmlose Bekanntschaften mache, nicht wahr? Er könnte das missverstehen und sich sorgen. Dabei muss er den Kopf für Wichtigeres frei haben, das verstehst du doch?«

Wie unklug von ihr, in so gereiztem und kriegerischem Ton mit mir zu sprechen. Sollte sie nicht versuchen, mich zu ihrer Verbündeten zu machen? Für höhere Taktik war ihr Verstand eben nicht geschaffen.

Übrigens war ich selbst schon zu dem Schluss gekommen, Papa einstweilen nicht damit zu belasten, auf welche Art sich seine junge Frau die Zeit vertrieb, während er das Vaterland verteidigte.

Also lächelte ich sie nur an, nahm meinen Brotteller und stieg die Treppe hinauf, um ganz gehorsam zu Bett zu gehen.

Im Badezimmer trocknete ich zunächst mein Haar mit einem Handtuch ab und kämmte es vorsichtig durch, weil sich meine Locken verklittet hatten. Dann wusch ich mein Bein. Jetzt merkte ich, dass ich mir eine große Wunde gestoßen hatte, man konnte den weißen Knochen schimmern sehen. Ich holte mir aus Papas Wandschrank ein schwarzes englisches Pflaster, schnitt es zurecht und pappte es auf mein Knie.

Danach zog ich das feuchte Kleid aus und mein Nachthemd an und deckte mich warm zu. Das war wirklich sehr behaglich. Draußen wurde es inzwischen zunehmend stürmischer. Die alte Buche vor meinem Fenster tippte mit den äußersten, dünnen Astspitzen an das Glas, wie immer bei Sturm.

Ich las in einem Buch und lauschte gleichzeitig auf die Geräusche im Haus. So gegen acht würde Gerda mich zurückerwartet haben, wenn ich bei Hedis Geburtstagsfeier geblieben wäre. Sollte ihr Besucher dann nicht schon wieder verschwunden sein? Aber vielleicht dachten sie, nachdem ich ihn gesehen hätte, wäre schon alles egal und er könnte ruhig noch länger bleiben?

Kurz nach zehn hörte ich sie endlich in der Diele.

Verabschiedete er sich jetzt? Und warum dauerte das so lange?

Ich nahm wieder meinen Morgenrock, so wie vor einigen Wochen, als Harro im Haus war. Doch diesmal zog ich auch gleich Wollstrümpfe an: Fräulein Rahm sagt immer, ein kluger Mensch lernt durch alltägliche Fehler und macht es beim nächsten Mal besser.

Ich humpelte also ganz leise die Treppe hinunter bis zum Bogen, an dem man mich hätte sehen können. Durch die Einschnitte im Geländer konnte ich ganz bequem meine Stiefmutter und ihren Kavalier beobachten.

Sie standen dicht voreinander, er trug schon den schönen grauen Mantel mit dem dunklen Pelzkragen, noch offen, und seine Mütze. Gerda rankte sich an ihm hoch und hielt ihre Hände gegen seine Brust gelehnt.

»Wie soll ich das aushalten? Ein junges Herz kann irren«, sagte sie. »Ich war geblendet von dieser Familie, ich war ja kaum achtzehn. Und nun ist es so, dass sie mich hassen. Meine Stiefkinder hassen mich und meinem Mann bin ich gleichgültig.«

Leider stimmte Letzteres keineswegs.

Was sagte sie – kaum achtzehn? Demnächst würde sie erzählen, unsere blendende Familie hätte sie aus der Sandkiste geraubt.

»Meine Kunst, das Malen, verstehen sie auch nicht, keiner von ihnen. Und mein Mann will immer, dass ich ihm noch einen Sohn schenke!«, lamentierte Gerda. »Dabei ist das so unwürdig, eine tierische Quälerei. Ich war dabei, als eine Nachbarin während einer Geburt starb … So etwas kann man nie vergessen.«

»Warum hast du denn geheiratet, wenn du keine Kinder bekommen möchtest?«, fragte der Leutnant sehr richtig.

»Ach, das ist doch nicht der einzige Sinn einer Ehe. Ich träume von einer Seelengemeinschaft. Wenn doch die Liebe nur aus Küssen bestünde! Musst du etwa auch unbedingt Kinder haben?«, fragte sie mit trauriger Stimme.

Er zuckte mit den Schultern und meinte: »Ich bin Lehrer, wie du weißt …«

Sollte das heißen, er war verrückt auf Kinder und wollte selbstverständlich ein halbes Dutzend – oder meinte er, er hätte beruflich genug mit kleinen Schreihälsen zu tun?

Meine Stiefmutter ging der Sache nicht weiter auf den Grund. Sie schob ihre Hände über seine Schultern, verschränkte sie hinter seinem Hals und lehnte ihr goldblondes, vom Tuch umwundenes Haupt an seine Brust.

»Ich will hier nicht bleiben. Nimm mich mit, Curd!«, verlangte sie. »Du hast gesagt, du bist so einsam …«

»Ja, das ist wahr …«, gab er zu.

Soweit ich sein Gesicht erkennen konnte, sah er nicht sehr glücklich aus, eher ratlos. Aber er legte doch seine Arme um sie. »Ich hab ja auch niemanden, mit dem ich sprechen kann. Niemanden, der zu mir gehört. Nachdem Wanda diesen Emil geheiratet hat und meine Mutter gestorben ist … Jetzt hab ich wirklich nur noch meine alten Tanten, die eine hier in Hamburg und die andere in Hannover.«

»Und mich! Mich hast du doch! Nimm mich mit, nimm mich weg von hier«, wiederholte sie.

»Wohin denn?!«, fragte er etwas ungeduldig. Er schob sie von sich fort, um ihr Gesicht zu sehen. »Gerda, ich muss ja wieder an die Front …«

»Hier bleibe ich nicht!«, rief sie unvorsichtig laut, wenn man bedachte, dass ich sie durchaus in meinem Zimmer hätte hören können. Sicher dachte sie, ich schliefe längst.

»Jetzt schon gar nicht kann ich hier noch bleiben. Könnte ich nicht bei deiner Tante wohnen?«

»Das ist unmöglich!«, sagte er. Er klang erschrocken.

»Wenn du mich nicht mitnimmst, dann geh ich heute Nacht – ich geh in die Elbe …«, behauptete diese Person und schluchzte an seiner Uniform. Meinte sie wirklich, er würde auf so einen melodramatischen Schwindel hereinfallen?

»Heute Nacht kann ich dich nicht mitnehmen, meine Tante ist ja noch in ihrer Wohnung. Am Vierundzwanzigsten fährt sie zu ihrer Schwester nach Hannover, weil die krank ist. Ich fahre nur deshalb nicht mit, weil ich mich am ersten Feiertag schon wieder zurück zum Dienst melden muss. Wenn du morgen Abend zu mir kommst – dann wirst du eben über Nacht bleiben. Aber du musst fort, bevor die Tante zurück ist. Warte, ich habe gute Freunde in Pommern, Gutsbesitzer, da könntest du eventuell wohnen … Ich werde ihnen telegrafieren …«, überlegte er.

»Oh ja! Ich kann mich nützlich machen, Curd. Ein Landsitz – haben sie Kinder? Ich kann Malunterricht geben, ich muss niemandem auf der Tasche liegen …«

Ich verdrehte die Augen auf meinem Treppenplatz. Wollte sie jetzt unschuldige Kinder mit ihrem braunen Kartoffelmus traktieren und bildete sich ein, jemand würde sie obendrein noch dafür bezahlen?

Die beiden in der Diele küssten sich, ich konnte sie nur noch zur Hälfte sehen, weil sie sich ein Stück weggedreht hatten. Er zog ihr das blödsinnige Tuch vom Kopf und griff in ihr dünnes Haar, soviel erkannte ich.

»Ich brauche eine Seele, die mich versteht. Diese Einsamkeit ist unerträglich«, jammerte Gerda, sobald sie den Mund wieder frei hatte. »Und du brauchst mich!«, verlangte sie.

»Ja, ich brauche auch einen Menschen, der mich versteht«,  bestätigte er leise. Womit er keineswegs zugab, dass sie das sein musste.

Ich fragte mich, worüber sie eigentlich stundenlang geredet haben mochten, wenn sie jetzt erst, im Mantel, im Stehen und zwischen Tür und Angel, zum Wesentlichen kamen.

Letzter Kuss, einige Seufzer, dann sagte er, schon in der Tür: »Du weißt die Adresse noch? Ottersbekallee 12, im dritten Stock, du musst bei Irmtraut Stapelfeld klingeln – wann kannst du bei mir sein?«

Ich spitzte angestrengt die Ohren, aber sie hauchte Irgendetwas, das nicht bis zu mir nach oben drang, zumal es durch den Sturm übertönt wurde. Allerletzter Kuss, dann fiel die Tür hinter ihm zu, Gerda drehte sich um und lächelte verklärt in den Dielenspiegel. Wären die Einschnitte im Treppengeländer größer gewesen und die Treppe nicht im Dunkeln gelegen, dann hätten sich unsere Blicke im Spiegel begegnen können.

Ich musste zugeben, dass sie fast hübsch aussah, mit sehr roten Bäckchen, das flachsgelbe dünne Haar über die Schultern verteilt.

Ich stand leise auf und huschte auf Katzenpfoten zurück in mein Zimmer und ins Bett. Das Licht drehte ich auch aus und das war wohl getan, weil bald darauf meine Stiefmutter nach mir sah. Sie öffnete leise die Tür, um zu kontrollieren, ob ich auch tief und gleichmäßig atmete. Als ihr das geboten wurde, verschwand sie…

Die Novelle ist im Kadera-Verlag, Hamburg, erschienen

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