Später dachte ich darüber nach, ob das wirklich mein schönster Heiligabend gewesen war. Als Mama noch lebte, hatte ich mal ein entzückendes weißes Kleid aus Spitze beschert bekommen und für Clara, meine schönste Puppe, war haargenau dasselbe angefertigt worden, da hab ich vor Freude geweint. Das war auch sehr schön gewesen.
Bevor Gerda am Abend in ihrem Schlafzimmer verschwand, zischte sie mich im Vorbeigehen an: »Du liebst ihn doch gar nicht. Das hast du alles nur getan, um mich zu verletzen!«
Sie nimmt sich einfach viel zu wichtig. Sie würde nie begreifen, dass ich es in allererster Linie getan habe, um das Meinige beizutragen und meinem armen Vater Ruhe im Kampf zu verschaffen.
Die Reste der dünnen Gans aßen wir am zweiten Weihnachtsfeiertag. Ein bisschen zäh war sie schon.
Ich saß gerade im Wintergarten und machte mir Gedanken, ob es nicht langweilig werden könnte als Lehrersfrau in Hannover mit all den Birken und dass ja noch gar nicht heraus war, ob es wirklich nötig sein würde, Curd zu heiraten – da klingelte es an unserer Haustür.
Erna öffnete und meldete, da sei ein fremder Herr, ein Major Demski, der sich Frau und Tochter des Hauses empfehlen lasse, er möchte etwas abliefern.
Gerda und ich liefen beide neugierig zur Tür.
Major Demski trug einen dicken Schnauzbart und lächelte mit Apfelbäckchen. Er gab uns einen Briefumschlag von Harro:
»Noch warm! Direkt aus Flandern!«, sagte er und zwinkerte. »Ich bin heute der Briefträger, mit den herzlichsten Grüßen und Weihnachtswünschen obendrein!«
Wir baten ihn herein und boten Kaffee an, aber er wollte standepede weiter zu seiner eigenen Familie. Das mussten wir natürlich respektieren.
Wir gingen mit dem Brief ins Wohnzimmer, Gerda riss ihn auf und ließ sich auf der Ottomane nieder. Ich setzte mich auf die Kopfstütze und las gleich mit.
Harro schrieb:
25.12.1914
Mein gutes Lenchen, liebe Gerda,
vor allem und zuerst alles Liebe und Gute zum Fest, das wir nun doch alle getrennt verbringen müssen. Habe gestern mit Papa telefonieren können, es geht ihm auch gut.
Genau wie ich dankt er Euch von Herzen für die liebevoll eingepackten Sachen, die warme Unterwäsche, den Stollen und die Kekse – besonderen Dank bitte auch an Erna – die Zigaretten und je fünf Paar Socken für jeden von uns. Lene, du musst seit dem Sommer daran gestrickt haben!
Nun möchte ich Euch beschreiben, was in den letzten Tagen hier passiert ist. Ich gebe den Brief einem meiner Vorgesetzten mit, der aus verschiedenen Gründen morgen früh nach Hamburg fährt und der sehr in Ordnung ist, denn dann bekommt Ihr ihn sofort.
Und zwar fing alles am 24. Dezember an.
Zunächst wurde das Wetter endlich besser – nach Wochen von widerwärtigem Eisregen, ganz unerträglich, stellte im Himmel zu Weihnachten freundlicherweise jemand den Hahn ab.
So muss sich Noah gefühlt haben nach 40 Wochen Sintflut, als es endlich aufhörte, zu gießen. So eine Gnade ist bereits ein Geschenk!
Kalt blieb es wohl, aber es klarte auf und dann kam sogar die Sonne hervor und machte den Anblick, der so entsetzlich ist, angenehmer. Überall glitzernder Raureif, da sieht sogar Stacheldraht reizend aus.
Wir hatten viele kleine Tannenbäumchen samt Kerzenhaltern und Kerzen von der Basis geschickt bekommen. Darüber kann man denken, wie man will, wir haben sie geschmückt und wohl alle sehr an Zuhause gedacht dabei.
Es blieb sehr ruhig an diesem Tag im Graben, wenig Schüsse im Ganzen, als ob auch die Briten sich gern etwas besinnen wollten. Wir zündeten gegen neun Uhr unsere Baumkerzen an und packten unsere Pakete aus. Dann sangen wir gemeinsam »Oh, du fröhliche« und »Stille Nacht, Heilige Nacht«, wohl dreißig Mann im Chor.
Nun stellt Euch unsere Überraschung vor, als wir geendet hatten und plötzlich von jenseits des Grabens, aus dem Feindesgraben, Händeklatschen und Beifall klang!
Wir guckten uns perplex in die Gesichter. Eher hätten wir noch erwartet, dass sie uns auf kurze Art zum Schweigen bringen würden.
So angefeuert sangen wir gleich noch weiter, »Vom Himmel hoch« wunderschön.
Wieder Beifall von drüben! Und danach sangen dort welche, ich weiß nicht was für ein Lied, aber es klang auch ganz fabelhaft.
Wir stellten vorsichtig unsere Bäumchen mit den brennenden Kerzen oben auf die Brustwehr und einige riefen auf Englisch nach drüben, wir sollten alle an diesem Abend nicht schießen.
Laute Zustimmung von den Tommys und »Merry Christmas«-Rufe.
Wir riefen zurück: »Frohe Weihnachten«, so wie man das vertrauten Nachbarn zuruft.
Und es stimmt ja, vertraut sind wir uns am Ende, so dicht beieinander in derselben ekelhaften Situation, die Nasen im Dreck, und den Ratten schmecken die Reste von beiden wohl gleich gut.
Einige verwegene Kameraden trauten dem Frieden sogar so weit, dass sie ohne jede Deckung auf die Grabenkante stiegen und dem Feind zuriefen, wir sollten am anderen Tag unsere Leichen gemeinsam begraben.
Einer nahm eins der Weihnachtsbäumchen und rutschte mit Todesverachtung ins Niemandsland, wanderte langsam auf die feindlichen Wälle zu, jederzeit in Gefahr, erschossen zu werden.
Aber niemand schoss.
Im Gegenteil, jetzt kamen sie uns von drüben entgegen, langsam und zögerlich.
Als sich die ersten Feinde begegneten, blieben sie ungefähr in der Mitte stehen und wir hörten, wie sie miteinander sprachen und lachten. Bald ging es im Niemandsland zwischen den Gräben zu wie auf dem Bahnhof.
Irgendwann hielt es mich natürlich auch nicht länger, ich wollte dabei sein. Ihr könnt euch denken, wie heftig mein Herz schlug, als ich in der sternenklaren Nacht – einen goldenen Mond gab es sogar gratis dazu, also beste Sicht – ungeschützt auf die Briten zuging, um mich mal in Ruhe mit ihnen zu unterhalten.
Mir kommt es immer noch ganz unwirklich vor, aber geträumt habe ich nicht, weil alle anderen dasselbe erlebt haben.
Wir unterhielten uns also gemütlich mit den Tommys. Wir lachten und tauschten Tabak gegen Zigaretten und andere Sachen.
Ich gab ein Paar gestrickte Socken – ich hoffe, Lene wird mir das jemals verzeihen! Vier Paar hab ich ja behalten – und bekam dagegen eine Schachtel mit sehr guter dunkler Schokolade.
Und dann stand ich plötzlich einem Feind gegenüber, den ich hasste. Ich kannte ihn genau durchs Fernglas und ich hatte oft genug vergeblich versucht, ihn zu erwischen. Der hatte meinen Freund Dirring ermordet, das hatte ich damals genau beobachtet. Ein Mann mit ulkigem Vogelgesicht, mit einer winzigen, spitzen Nase wie ein Schnabel. Nun war er viel kleiner als gedacht, ganz schmächtig. Er unterhielt sich neben mir und lachte richtig sympathisch. Er war noch ganz jung, und plötzlich dachte ich: Vielleicht hab ich einen seiner besten Freunde erschossen. Oder viele. Was weiß denn ich? Und er weiß es genau so wenig. Wir befolgen Befehle, das ist alles …
Da war mein ganzer wochenlanger Hass weg. Vom soldatischen Standpunkt aus ist das schlecht, es kämpft sich besser, wenn man hasst.
Ich habe mich sogar mit ihm unterhalten, später. Er heißt Albert und stammt aus Sheffield.
Wir tranken Bier miteinander, von uns ausgegeben, und Whisky, von den Tommys spendiert.
Es herrschte eine völlig unbeschreibliche Stimmung von Kameradschaft und Leichtigkeit. Obwohl einige der Kerls schließlich ordentlich geladen hatten, war nicht die geringste Gefahr von Streit und Hader. Als wären alle auf einmal nur noch fähig zu Friedlichkeit und Harmonie.
Ich scheue mich, es hinzuschreiben, aber es ist wahr: Vorgestern Abend, nachdem ich monatelang nur noch voller Hass und Bitterkeit gewesen war, fühlte ich Liebe.
Ich liebte das Leben und die kalte, frische Nachtluft und Euch und Papa und meine Kameraden – aber ich liebte auch diese lachenden, wunderbaren, friedlichen Feinde.
Ich weiß nicht, was für ein Zauber das war. Aber so ist Weihnachten sicher ursprünglich mal gedacht gewesen.
Und es war noch nicht vorbei! Am nächsten, wieder sonnigen Tag, trafen wir uns genau so einvernehmlich.
Überhaupt fiel nirgends auf den Linien irgendein Schuss, keine Protzen, keine Handgranaten waren zu vernehmen. Ganz große Ruhe überall. Man hätte denken können, der Krieg wäre vorbei.
Wir sammelten unsere Toten ein, die da teilweise seit mehr als einem Monat gelegen hatten, weil es zu gefährlich gewesen war, sie zu bergen, und wir halfen uns gegenseitig, sie in dem sehr festgefrorenen Boden zu begraben.
Dann machten wir etwas wie eine allgemeine kleine Begräbniszeremonie.
Danach ging es wieder ans Unterhalten und Sachen-Austauschen. Und dann kam der Höhepunkt diesen Wahnsinns: Ein paar von den Tommys hatten eine Mütze mit irgendetwas ausgestopft und rund zusammengebunden und fingen an, es hin und her zu treten.
Was soll ich Euch sagen, bald spielten wir mit, zwischen den zugefrorenen Löchern und dem Stacheldraht machten wir ein ganz zünftiges Fußballmatch mit Toren, die aus Holzstücken markiert waren.
Wieder gab es die ganze Zeit keine Streitigkeiten zwischen Feinden und Feinden.
Das bin ich ja an den besten Tagen nicht von meinen Kameraden gewohnt!
Nachmittags tranken wir gemeinsam Kaffee beziehungsweise Tee und aßen an Gebäck, was wir bekamen oder anbieten konnten.
Alfred, der junge Scharfschütze aus Sheffield, gab mir seine Adresse und lud mich ein, ihn zu besuchen, wenn Frieden wäre und falls wir überleben sollten. Er sagte, seiner Schwester Ellen würde ich mit Sicherheit sehr gut gefallen.
Im Moment kommt es mir so vor, als sei er einer der nettesten Menschen, die mir je begegnet sind. Ich bin jetzt sehr froh, dass ich ihn immer verfehlt habe.
Am späten Nachmittag stieg plötzlich drüben ein Offizier auf die Brustwehr und schrillte in eine Trillerpfeife, da mussten unsere Freunde zurück.
Wir machten noch ab, dass wir am nächsten Tag nur in die Luft schießen würden, anstatt anständig zu zielen.
Jetzt sitze ich hier im Unterstand und schreibe Euch das und es kommt mir immer unwirklicher vor.
Vorgestern war ich noch halbtot, mir war alles egal, ich wollte nur, dass es bald vorbei ist, so oder so. Und heute fühle ich mich unendlich getröstet.
Wie werde ich mich in einer Woche fühlen?
Ich war nie ein besonders guter Christ, das weißt Du, Lenchen. Aber jetzt bin ich voll Respekt und Ehrfurcht vor der Macht dieser Weihnachten.
Ich wünsche Euch ganz innig das Beste
und bin in Liebe
Euer Harro
PS: Sagt Papa vielleicht lieber nichts davon.
Er würde es nicht verstehen.
Patsch, fiel ein Tropfen auf den Brief. Eine Träne von Gerda oder von mir, keine Ahnung.
Nachdem wir den Brief gelesen hatten, sahen wir uns unsicher an.
Dann sprang ich auf, zog meine Stiefmutter hoch und umarmte sie. Erst sträubte sie sich ein bisschen, doch dann umarmte sie mich ebenfalls ganz fest.
Die rötliche Nachmittagssonne glitzerte in den Goldketten und den Kerzenhaltern in der Tanne.
Weihnachten ist wirklich eine gute Zeit, um Frieden zu machen …