Anfangs hatten wir geglaubt, Weihnachten wäre der Krieg vorbei. Alle, die ich kenne – außer Johnny Behrens natürlich. Aber der glaubt ja sowieso nie irgendwas. Als es im Sommer losging mit der Mobilmachung, da sagte Johnny Behrens, das würde nur Leid und Elend bringen.
Und als ich ihn fragte, ob er sich nicht auch freiwillig melden wollte – alle, die ich kannte, hatten sich freiwillig gemeldet – da sagte er: ‚Menschenskind, Lenchen, was gehen mich die österreichischen Thronfolger an?’
Ich hab gesagt, vielleicht gehen die dich nichts an, aber du solltest mal drüber nachdenken, ob du dein Vaterland verteidigen musst! Wir sind von den Franzosen und von den Russen angegriffen worden, bevor überhaupt der Krieg erklärt war! Sie haben versucht, Cholerabakterien in einen Brunnen zu werfen, irgendwo in Lothringen. Und überall sind Spione. Frau Degenhardt hat gesagt, man erkennt sie sofort daran, dass sie so unstet gucken, ganz anders als Deutsche mit gutem Gewissen. Was natürlich daher kommt, weil seine Majestät der Kaiser entschieden gegen den Krieg war und wir uns lediglich verteidigen, was schließlich unser gutes Recht ist.
Aber mit Johnny Behrens kann man nicht reden, er weiß alles besser und denkt, der Kaiser hat den Krieg angezettelt. Sein Vater ist Arbeiter irgendwo bei der Werft und Sozialdemokrat, eigentlich dürfte eine Offizierstochter sich überhaupt nicht mit jemand aus so einer Familie abgeben, das hat vor einem Jahr schon meine Lehrerin, Fräulein Rahm gesagt. (Die hatte nämlich gesehen, wie Johnny und ich nach der Schule an der Elbe spazieren gegangen sind.)
Im vergangenen Sommer war Hedi Degenhardt und mir aufgefallen, dass einer der Unterprimaner auf dem Schulweg immer zu uns rüber guckte. Wir konnten uns nicht einigen, ob er nun sie oder mich meinte. Er gefiel uns jedenfalls gut: ein heller Schopf, schmale Augen und eine Adlernase, ein elegantes Gesicht gewissermaßen. Dass er aus einer Arbeiterfamilie stammt hätten wir nie vermutet.
Als Hedi mal krank war, sprach er mich nach der Schule an. Was bedeutete, er meinte also mich!
Er sagte, wir hätten denselben Weg und er könnte mich begleiten. Er sagte Sie zu mir und Fräulein Dalbrok, das gefiel mir gut, das machte auch nicht jeder, weil ich ja erst fünfzehn war. Zu Backfischen sagen die meisten Menschen leider immer noch Du.
Johnny Behrens war letzten Sommer übrigens achtzehn.
Er aß aus einer Papiertüte Kirschen und erzählte, die hätte sein Lehrer ihm geschenkt. Natürlich bot er mir davon an, aber ich erklärte, ich dürfe nur gewaschenes Obst essen. Da meinte er: »Sie Ärmste!« – und aß weiter seine Kirschen. Sie waren sehr groß, hellrot und glänzend und sahen nicht besonders schmutzig aus, deshalb wollte ich schließlich doch etwas davon. Aber er sagte, er könne meine Gesundheit nicht riskieren, hielt sie ganz hoch und freute sich, dass ich danach hüpfte – bis er mir doch den Rest überließ.
Ich bin dann auch gesund geblieben.
Er wollte alles über mich wissen und ich musste aufpassen, nicht zu viel preiszugeben gleich am Anfang. Ich erzählte aber doch einiges, vor allem die traurigen Sachen: wie meine große Schwester Wilhelmine vor zehn Jahren gestorben ist, obwohl sie mit ihrer Lunge auf einem Sanatorium in der Schweiz war und wir hofften, sie würde wieder gesund. Und dass Mama drei Jahre später an Typhus starb.
»Vor zwei Jahren hat Papa noch einmal geheiratet. Gerda ist erst zweiundzwanzig, knapp drei Jahre älter als mein großer Bruder. Sie hat auch nicht viel Ahnung von Haushaltsführung . . .«, fuhr ich mit den traurigen Begebenheiten fort – und dann hielt ich endlich den Mund. Es ist immer unklug, schlecht über die eigene Familie zu sprechen.
Johnny Behrens wollte ebenfalls nichts über sich selbst berichten, weil er befürchtete, dann dürfte ich bestimmt nicht mit ihm verkehren. Aber ich fragte so lange, bis er ein paar Antworten gab.
Dadurch erfuhr ich zum Beispiel eben, dass seine Familie arm ist und an der Grenze zu Altona wohnt.
»Wie kommen Sie denn dann hier aufs Blankeneser Gymnasium?«, fragte ich.
»Weil unser Pastor meint, ich bin so plietsch«, antwortete er und grinste. (Er sagt Paster.)
Johnny hielt die Augen immer ein bisschen zusammengekniffen, als ob ihn die Sonne blendet. Dabei war es gerade an dem Tag ganz und gar bedeckt, das weiß ich noch genau.
Es verhielt sich so, dass dieser Pastor – der in Johnnys Volksschule den Religionsunterricht gab – zu seinen Eltern kam und sie überredete, Johnny auf das Gymnasium zu geben, wenn er sich am Schulgeld beteiligte.
Sein Vater wollte nicht, aber die Mutter war dafür.
Ich fragte: »Waren Sie denn so gut im Religionsunterricht, dass es dem Pastor imponiert hat?«
»Überhaupt nicht. Ich hab mich immerzu mit dem Mann gestritten. Ich glaube nicht, an gar nichts. Vielleicht hat ihm das imponiert . . .«, sagte Johnny. »Aber ich bin ihm schon dankbar. Ich will studieren, um Ingenieur zu werden.«
Das fand ich sehr interessant. Ich dachte, wenn er eine große Erfindung macht, so was wie den Zeppelin – dann wäre er eventuell eine annehmbare Partie, trotz seiner Herkunft. Von da ab gingen wir öfter mal nach der Schule spazieren.
Und Johnny Behrens also meinte nun, der Krieg könnte wer weiß wie lange dauern, denn es würde ein großer Krieg und große Kriege dauerten immer ewig, sieben Jahre oder dreißig Jahre. Ich hab ihn ausgelacht – mein Bruder Harro hatte mir genau erklärt, kein Industriestaat könnte es sich erlauben, seine Wirtschaft durch einen Krieg zu ruinieren, der länger als zwei Monat dauerte.
Meine Familie war jedenfalls am Anfang ganz begeistert. Nicht richtig jubelnd natürlich, mehr so auf ernste Art.
Papa und Harro fuhren sofort an die Westfront. Gerda und ich brachten sie zum Bahnhof und beide grüßten zum Schluss sehr gefasst aus dem Zugfenster. Sie sahen fabelhaft aus in ihren feldgrauen Uniformen mit den Epauletten, ritterlich gewissermaßen. Ich war riesig stolz auf sie.
Meine Stiefmutter bekam ein paar Tage später ein blaues Auge. Schade, dass Papa das nicht gesehen hat. Sie war zu einem patriotischen Treffen im Alsterpavillon und da gab es vor lauter Patriotismus eine Keilerei. Erst haben sie die Wacht am Rhein gesungen und dann den Geschäftsführer und das Mobiliar zusammen gedroschen. In der Zeitung schrieben sie über ‚Die Schlacht am Jungfernstieg’.
Gerda sprang aus einem der Fenster – im Erdgeschoss, versteht sich – aber sie hat trotzdem was abgekriegt. Das linke Auge völlig zu geschwollen und eine dicke Schramme an der Stirn. Das hat mich eine Woche lang in gute Laune versetzt. Was musste sie auch allein in den Alsterpavillon gehen? Irgendeine mitleidige Seele brachte sie in einer Pferdedroschke nach Hause. So sind die Menschen immer zu Gerda. Sie steht da und schaut hilflos mit ihren runden porzellanblauen Augen, da muss dann jeder helfen.
Harro wurde Anfang November verwundet, kurz nach seinem zwanzigsten Geburtstag. Er lag einige Wochen in einem Lazarett, sie wollten ihm das Bein abnehmen, haben’s aber dann doch drangelassen. Für fünf Tage kam er nach Hause und humpelte hier herum, bevor er zurück an die Front fuhr, wieder nach Flandern. Man hatte ihm das Eiserne Kreuz erster Klasse verliehen, das trug er nun immerzu, sogar am Pyjama. Er sagte aber, das sei eine ironische Geste.
Ich war erschrocken, wie alt mein großer Bruder in kaum vier Monaten geworden war, so um den Mund herum. Seine Wangenknochen standen seltsam hervor und seine Augen glänzten nicht mehr.
Harro lachte auf eine neue, merkwürdige Art, die ich nicht an ihm kannte, ein tonloses Hecheln wie ein durstiger Hund. Und er sprach ein bisschen anders als früher, irgendwie runder und so, als ob seine Stimme aus den Backenzähnen käme und nicht aus der Kehle.
Als ich ihn danach fragte, war seine Antwort, er läge seit vielen, vielen Jahren nur noch mit Sachsen zusammen in der Grube, das färbe ab. Mit den vielen, vielen Jahren meinte er wohl seinen Fronteinsatz in Belgien seit August.
Harro sprach nicht mehr darüber, dass ein Industriestaat sich keinen Krieg erlauben durfte, der länger als zwei Monate dauerte. Er war überhaupt ganz schweigsam geworden. Mit Gerda redete er praktisch gar nicht und mit mir auch wenig. Meistens saß er in der Bibliothek und spielte gegen sich selbst Schach oder er schaute aus dem Fenster auf die Elbe.
Jeden Tag nach dem Abendessen setzte er sich mit der Cognac-Karaffe in den Wintergarten und wir hörten ab und zu, wie der Glasstöpsel klirrte. Später hatte er es dann nicht leicht, die Treppe rauf in sein Schlafzimmer zu humpeln, manchmal fiel er schwer gegen die Wände dabei. Morgens, beim Frühstück, dünstete er Cognac aus.
Einmal bin ich aufgewacht durch schreckliche Geräusche. Zuerst dachte ich, der Feind ist im Haus. Dann hab ich, als ich langsam wach wurde, begriffen, dass jemand auf unserem Klavier spielt: Beethovens Mondscheinsonate.
Ich konnte die sowieso noch nie idyllisch finden und hab mich immer gefragt, was Beethoven bloß eingefallen ist, als er das komponierte. Das klingt doch, als ob gleich jemand hingerichtet wird!
So leidenschaftlich und bedrohlich hab ich die Sonate aber noch nie gehört. Ich wusste auch nicht, dass Harro so gut spielen kann. Und so laut. Ich bin auf den Flur geschlichen. Da stand ich Gerda gegenüber: ein Tuch ums Nachthemd, mit ihrem dünnen Zöpfchen auf der Schulter und weit aufgerissenen Augen.
Wir blickten uns nur besorgt an, dann verschwanden wir wieder in unseren Zimmern.
Irgendwann hatte mein Bruder sich auf dem Klavier zu Ende ausgetobt. Übrigens, recht hatte er schon: Es war tatsächlich Vollmond…
Die Novelle ist im Kadera-Verlag, Hamburg, erschienen