GEGENSCHNITTE Novelle von Dagmar Seifert


 

Drinnen, Tag

Adam wachte auf, weil es im Stockwerk über ihm heftig polterte.

Er war unwillkürlich hochgezuckt, und die Lesebrille rutschte von seinem Bauch auf den Teppich. Davon erwachte Isis, die Katze, die zusammengekringelt im Sonnenschein lag. Sie schreckte auf und gab einen klagenden kleinen Laut von sich.

„Das war Frauchen“, erklärte er überflüssigerweise und wechselte einen Blick mit den großen, spiegelnden Katzenaugen.

„Frauchen hat wieder ein Schlückchen zu viel gehabt, sage ich dir…“

Isis stupste die Brille mit der Nase an, streckte sich und schlenderte aus dem Zimmer.

Adam überlegte, ob er auch aufstehen und nach Stella sehen sollte. Natürlich sollte er – deshalb polterte sie ja. Ließ sich fallen, einmal sogar die ganze Treppe hinunter, höchst riskant, sogar für eine Säuferin, sogar für eine Schauspielerin.

Stella war das ewige Opfer, das machte ihn zum fortgesetzten Täter.

Er blickte auf die Wanduhr, erinnerte sich, dass der Reporter bald kommen musste, stemmte sich aus dem bequemen Sessel hoch und ging – keineswegs in das obere Stockwerk, um zu sehen, was Stella sich und ihm jetzt wieder angetan hatte.

Sondern  ein wenig unsicher in die Küche, um Kaffeewasser zu kochen.

Es ließ sich nicht leugnen, seine Knie schmerzten.

Immer, wenn er eine Weile gesessen oder gelegen hatte, konnte er die Gelenke knirschen hören…

Jetzt spielte seine Frau oben sehr laut Musik: das war Valse triste von Sibelius. Zu diesen Klängen war sie damals qualvoll und ausführlich in mehreren Großaufnahmen gestorben, in dem Film ‚Dunkle Zuflucht‘. Adam verstand durchaus die Drohung. Andererseits, solange Stella noch solchen Lärm  veranstalten konnte, war ihr nichts weiter passiert.

Er goss den Kaffee auf, als die Türglocke schnarrte: der Reporter!

Ging öffnen, stand erstaunt einer jungen Frau gegenüber, einem ziemlich großen, dünnen Mädchen mit schmalen Schultern und  Gazellenaugen, und wünschte, er hätte die Jacke angezogen. Er war derzeit zu dick, um im Oberhemd  eine gute Figur zu machen.

„Ja, bitte?“, sagte er freundlich.

„Strack“, erwiderte das Mädchen, „wir sind hoffentlich verabredet? Das Interview für den Merkur, Herr Koschwitz?“

„Ach! Sie sind das. Ich hatte irgendwie einen… einen männlicheren Reporter erwartet…“

„Das tut mir leid. Aber sehen Sie, ich trage immerhin Jeans. Und mein Haar ist auch ganz kurz…“

Er betrachtete die dunkelbraunen Strähnchen, die ihr in die Stirn fielen und musste lächeln.

„Das sollte reichen. Kommen Sie herein, Frau Strack. Ich mache gerade Kaffee…“

Er ging vor ihr her ins große Wohnzimmer, wies auf einen Sessel, erklärte, er werde in einer Minute bei ihr sein und begab sich wieder in die Küche.

Als er zurückkam, ein Tablett in beiden Händen, hatte er seine Jacke übergezogen und sein Haar gekämmt, alles in Eile, um sie nicht so lange allein zu lassen.

Aber Frau Strack war gar nicht allein.

Sie hatte reichlich Gesellschaft: neben sich die Katze, die ihren Kopf kraulen ließ. Vor sich Stella, die Ehefrau.

„Na, da kommt er ja, der große Künstler“, bemerkte Stella mit kaum merkbar schwerer Zunge.

Adam bewunderte immer wieder, wie seine Frau sich bei Bedarf zusammen nehmen konnte.

Er stellte das Tablett auf den Glastisch und sagte in möglichst neutralem Ton: „Ich wusste nicht, dass du beim Interview dabei sein wolltest, meine Liebe. Ich habe nur für zwei Kaffee gekocht…“

Stella antwortete mit einem bösen kleinen Lächeln: „Nun, das reicht ja dann für Frau Strack und mich, mein Lieber. Du wirst in deiner ritterlichen Art sicher verzichten!“

Zu seiner Überraschung erhob sich das dünne Mädchen, die Reporterin, ein wenig im Sessel und sagte: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Herr Koschwitz, würde ich gern mit Ihnen alleine sprechen!“

„Das kann ich gut verstehen“, meinte Adam mehrdeutig, während Stella sich erhob, ihr Schwanken geschickt vertuschend, indem sie sich an der Sesselkante festhielt.

„Wenn ich unerwünscht bin, gehe ich natürlich…“

Niemand widersprach.

Adam registrierte erstaunt, dass die junge Reporterin offenbar wusste, was sie wollte und hartgesottener zu sein schien, als sie aussah.

Stella schritt schnell aus dem Raum, dem Grundsatz folgend, dass Geschwindigkeit half, das Gleichgewicht zu halten. Es sah sogar elegant aus, wie sie in ihrem langen, hinter ihr her wehenden Hausmantel über den Teppich segelte.

Sie warf die Tür mit einem scharfen Knall hinter sich zu. Das war vorauszusehen gewesen und nur die Katze zuckte schmerzlich.

Armes Tier.

Schon waren sie Komplizen, diese Frau Strack vom Merkur und Adam Koschwitz.

Er ließ sich bedachtsam nicht allzu schwer in den Sessel fallen, den Stella gerade geräumt hatte.

Über ihnen wurde das Silencio von Beethoven gespielt, bestimmt viel lauter, als sich das der Meister jemals gedacht hatte.

„Fragen Sie!“, ermunterte Koschwitz seine Besucherin und goss Kaffee in ihre Tassen. „Das ist das erste Interview, seit… weiß nicht genau. Seit Jahren, glaube ich. Ich dachte, ich wäre bereits völlig in der Vergessenheit versunken. So etwa: lebt der Koschwitz eigentlich noch? Ja, ein bisschen lebt er noch.“

Die großen braunen Augen blickten ihn ernsthaft an.  

Er wusste, dass er das jetzt auf keinen Fall sagen sollte – und sprach es trotzdem aus: „Ich dachte eigentlich, dass nur noch ein einziges Mal was über mich veröffentlicht wird. Mein Nachruf.“

Die Reporterin lachte leicht verlegen. „Aber: zum siebzigsten Geburtstag! Das ist doch schön? Ja, ich gratuliere noch nicht. Das ist übermorgen?“

 „Mein Geburtstag ist übermorgen, das ist korrekt. Allerdings bereits der zweiundsiebzigste…“

Die braunen Augen wurden riesig. „Nein! Aber – ?!“

„Ich weiß. Keine Ahnung, wie das bei Wikipedia und überhaupt im Internet gelandet ist. Ich sah das mit einiger Überraschung schon vor Jahren. Ein Irrtum. Ich bin zweiundvierzig geboren, nicht vierundvierzig. Aber da mir vor zwei Jahren niemand gratuliert hat, außer der Familie und engen Freunden, und da in diesem Jahr hier und da einer meint, ich sei nun Jubilar… Von mir aus. Ich sah keinen Grund, es zu dementieren.“

„Heißt das, ich bin die erste, der gegenüber Sie das richtig stellen?“

„Die erste Vertreterin der Medien. Ja. Machen Sie damit, was Sie wollen.“

Sie spielte mit dem Löffel auf der Untertasse und dachte nach. „Möchten Sie gern, dass ich den Fehler korrigiere?“

„Das ist mir egal. Vielleicht ist es ja kein Fehler. Womöglich wurden mir von einer höheren Instanz zwei Lebensjahre geschenkt?“

„Dann werde ich sie Ihnen nicht nehmen, Herr Koschwitz. Sie sehen sowieso sehr jung aus, finde ich…“

Er zwinkerte. „Eher wie siebzig als wie zweiundsiebzig?“

Beim Lachen zeigte sie sehr schöne, regelmäßige weiße Zähne. „Also, belassen wir’s dabei. Sonst wäre ich hier nämlich auch ganz falsch.“

„Das wäre ein Unglück. Ich möchte gern, dass Sie hier ganz richtig sind“, erwiderte er – und wunderte sich selbst über seinen flirtenden Ton. Ohne Zusammenhang, nur, um sich selbst zurecht zu weisen, fügte er hinzu: „Sie könnten meine Enkelin sein!“

Darauf ging sie nicht ein. Sie nahm einen Block aus ihrer Tasche, überflog die Schrift auf der ersten Seite und begann: „Herr Koschwitz, Sie müssen eigentlich sehr zufrieden mit sich und Ihrem Leben sein. Sie haben viel bewegt und viele Erfolge gefeiert. Sie waren einer der maßgeblichen Vertreter des Neuen Deutschen Films – Ihr Kleines Fernsehspiel Die Seejungfrau mit Helga Sondermann, 1972, war eine Sensation und ist heute noch sprichwörtlich, ein Klassiker… Sie waren einer der wichtigsten deutschen Autorenfilmer der 1970er Jahre. Für die Verfilmung von Wilhelm Raabes Stopfkuchen mit Bert Junger in der Titelrolle wurde Ihnen das Filmband in Gold verliehen – das Filmband in Silber erhielten Sie zweimal, den Ernst-Lubitsch-Preis, den silbernen Bären, den Adolf-Grimme-Preis… Ihr Film ‚Unser Vergessen‘ war sogar für den Oscar nominiert… Sie haben immer betont, dass Ihnen nichts daran liegt, nach Hollywood zu gehen… Sie sind mit…“ Sie räusperte sich ganz kurz, “…mit der großen Liebe Ihres Lebens verheiratet…“

Frau Strack blickte auf und etwas zweifelnd in seine Augen.

Adam lächelte leicht. „Natürlich. Deshalb bin ich ja auch so glücklich“, antwortete er.

Diese Reporterin mit der langen Nase und dem kurzen, dünnen Haar blieb mehr als zwei Stunden!

Stella blickte ihr vom Fenster aus nach, als sie zu ihrem Auto ging, das vor dem Gartenweg parkte.

Das Mädchen schlenderte mit einem unregelmäßigen Schritt, knickte zu sehr in den Knien ein – unsicher wirkte das, ein alberner Gang. Stieg ein – ein hässliches kleines Auto für ein hässliches großes Mädchen – und fuhr los.

Zwei Stunden für ein Interview!

Es war kaum anzunehmen, dass der alte Dummkopf so viel zu erzählen gewusst hatte.

Was war in den letzten Jahren schon groß Neues passiert?

Sie waren pleite gegangen mit Adams beiden letzten Filmen, das war passiert. Davon hatten sie sich nie erholt. Und das würde er wohl kaum der Presse verraten.

Geldsorgen rundum.

Eine Reihe von törichten Investitionen, auch, wenn er das nie zugegeben hätte, der alte Besserwisser.

Er träumte ja wohl immer noch davon, das Leben von Detlev von Liliencron zu verfilmen.

Detlev von Liliencron! Als ob irgendjemand noch diesen alten Fettmops kannte!

Etwas Langweiligeres hätte Adam sich kaum ausdenken können. Zumal dieser alte Dichter, soviel Stella wusste, immer nur mit jüngeren, derben Frauen verheiratet war. Jedenfalls keine Rolle für sie selbst.

„Das muss in schönen, ruhigen Bildern erzählt werden!“, versicherte Adam immer wieder, jedem, der dumm genug war, zuzuhören. „Schöne, ruhige Bilder, fast gemächlich gezeigt. Klare Farben. Jedes Detail muss stimmen. So wie Das Mädchen mit dem Perlohrring von Peter Webber!!“

Natürlich, dachte Stella jedes Mal wenn sie das hörte. Und dann am besten auch gleich Musik von Alexandre Desplat…

Doch natürlich war niemand bereit, das Projekt zu finanzieren. Die wussten, warum!

Wer würde denn in einen ‚gemächlich erzählten‘ Film gehen, sofern nicht gerade Scarlett Johannsen mitspielte oder, für das weibliche Publikum, Colin Firth?

Stella schaltete die laute Musik aus, die sie die ganze Zeit während dieses hochwichtigen Interviews hatte laufen lassen, um anzudeuten, dass sie doch noch da war. Sie bekam nachgerade Kopfschmerzen von diesem Gedröhne.

Sie goss sich einen weiteren kleinen Cognac ein, um sich zu beruhigen.

Eigentlich könnte sie jetzt ja nach unten gehen, nachdem sie hoffentlich niemanden mehr störte. Schließlich wohnte sie auch in diesem Hause.

Sie wollte Adam fragen, welchen Eindruck die zu groß geratene junge Dame auf ihn gemacht hatte.

Doch als sie unten ankam, war er im Garten, weit hinten bei den Haselbüschen. Sie hatten einmal abgemacht, dass er nur in dieser Entfernung zum Haus rauchen durfte. Der Qualm und der Geruch zogen sonst allzu leicht hinein.

Isis saß am Fuß der Treppe und warf ihr einen melancholischen, etwas mitleidigen Blick zu.

„Verpiss dich, Mistvieh!“, sagte Stella leise zu der Katze, bevor sie sich umdrehte und wieder nach oben ging.

Sonnenlicht, drinnen, Halbtotale

Melanie Wollschneider las das Interview im Merkur, zwei Tage später.

Sie las es sogar ihrer Freundin Frauke vor, mit der sie seit ihrer Scheidung zusammenwohnte: „Hör mal, hier ist was über den Regisseur Adam Koschwitz und seine schöne Frau, du weißt schon, die Stella Gaban, dieser große Filmstar. Eine Schönheit. Setz dich doch. Stella Gaban, wundervolles Gesicht, feinknochig und edel und ein bisschen katzenhaft, die schrägstehenden Augen, honigbraune Augen. Du weißt wohl, dass ich sie kenne?“

Nein, das hatte Frauke nicht gewusst, sie setzte sich interessiert an den Tisch.

„Möchtest du Kaffee? Ist noch heiß, nimm dir eine Tasse aus der Vitrine. Ja, Vati hat bei den Koschwitz‘ damals nämlich die Platten im Wintergarten verlegt und die Fliesen in der Küche. Höchst geschmackvoll, Vati war ein Geheimtipp, der hat bei sehr viel Prominenz gearbeitet. Und an einem Samstag hat er mich mitgenommen, keine Ahnung, wo Mutti war an dem Tag, sie wussten wohl nicht, wohin mit mir… Ich war zehn Jahre alt, 1985 war das. Stella Gaban war damals genau dreißig, exakt zwanzig Jahre älter als ich, das hab ich mir immer gemerkt. Ja, und Koschwitz ein Stück älter, also muss er damals, warte mal, wenn er jetzt siebzig wird, einundvierzig gewesen sein…“

Frauke nickte zu all diesen Zahlen und rührte geduldig in ihrer Tasse.

„Beide waren zufällig anwesend. Hätten ja auch nur Hausmädchen oder Diener oder so was da sein können. Eine Traumvilla natürlich. Ich hab so in Erinnerung, alles war Cremeweiß, von den Vorhängen bis zum Teppichboden. Da waren die beiden gerade eben zusammen, ich glaube, seit kurzem verheiratet. Hach, das hatte ja damals einen Skandal gegeben! Sie spielte die Hauptrolle in einem seiner Filme und sie haben sich über alle Maßen ineinander verliebt während der Dreharbeiten. Die absolute Leidenschaft, verstehst du. Das hast du doch bestimmt auch mal gelesen?“

Nein, Frauke wusste praktisch so gut wie nichts über Adam Koschwitz und sein Schicksal. Sie ging nicht mal oft ins Kino.

Melanie betrachtete ihre Freundin mit zweifelndem Gesichtsausdruck, als überlege sie, ob es klug gewesen sei, ausgerechnet mit ihr zusammen zu ziehen.

„Erzähl mir mehr darüber!“, bat Frauke, die ein verträglicher Charakter war.

„Ja. Ja, ich bin ja in Begriff. Also, du musst dir vorstellen, alle beide sahen ganz ungewöhnlich attraktiv aus. Er sehr groß und dunkelhaarig und mit richtig schwarzen Augen – toll. Und sie war wohl so ungefähr die prachtvollste Frau, die wir damals unter unseren Stars hatten. Du weißt ja, Mitte der 80er, diese Traummode, enge Taillen und ganz breite Schultern, irrsinnige Haarmähnen und viel Make-up. Ich kleines Mädchen hab sie angestarrt, ich dachte, sie sieht wie ein Märchen aus. Ich weiß noch genau, was sie anhatte: ein Kostüm in zartem Gelb mit engem Rock und kurzem Jäckchen und dazu gelbe Pumps – unvergesslich! Das passte wahnsinnig zu ihrem goldbraunen Haar und diesen bernsteinfarbenen Augen – kannst du’s dir vorstellen?“

„Natürlich. Ist da ein Bild von ihr?“

„Nein, komischerweise nicht. Schade. Nur von ihm, schau, so sieht er jetzt aus… Immer noch recht gut für einen Mann in diesem Alter, oder? Markant. Ja, markant. Seit dreißig Jahren sind die beiden jetzt glücklich miteinander. Ist doch schön, dass es so was auch gibt…“ fügte Melanie mit einem kleinen Seufzen hinzu. Ihre eigene Ehe hatte kaum sieben Jahre gedauert.

„Solche Menschen sind eben Lieblinge der Götter. Du, wir müssen uns unbedingt mal einen der alten Filme der beiden ansehen. Wo er die Regie gemacht hat und wo sie eine Hauptrolle spielte. ‚Dunkle Zuflucht‘ beispielsweise. Da stirbt sie so schrecklich… Gott, ich hab geheult im Kino!“

„Und weshalb war das damals ein Skandal, dass die sich ineinander verliebt haben? Das lag doch eigentlich nahe…“ fand Frauke.

„Natürlich lag es nahe. Es war wohl fast schicksalhaft.  Unausweichlich. Als wären beide selbst die Hauptpersonen in einem Film gewesen. Also, er war natürlich verheiratet. Ach so, stimmt, sie ja sogar auch. Aber sie mit irgendeinem uninteressanten jungen Mann, so ein blässlicher, ich glaube, der war Kameramann oder so was. Und kinderlos. Aber Adam Koschwitz hatte welche. Er war mit Martha Rauter verheiratet, auch eine Schauspielerin…“

„Das sagt mir was!“, freute sich Frauke. „Die hab ich sogar mal auf der Bühne gesehen, als Mutter Wolffen im Biberpelz!“

„Ja, gut möglich“, meinte Melanie. „Die spielte wohl auch Theater. Keine sehr hübsche Person, wenn du mich fragst. War wohl auch älter als er. Na, und beide hatten Kinder, mehrere. Mindestens zwei Jungen, glaube ich – oder war es ein Mädchen und ein Junge? Zwischen neun und zwölf auf jeden Fall, so etwa mein Alter. Und als sich der Koschwitz nun so bodenlos in dieses Zauberwesen, in die Gaban, verliebte – ja, da musste er sich entscheiden. Pflicht oder Liebe. Er hat sich für die Liebe entschieden. Hat seine Familie im Stich gelassen für diese faszinierende Frau. So sind eben Künstler. Ein Normalbürger hätte sich wahrscheinlich anders entschieden, denke ich mal. Und das gab dann ein ziemliches Theater. Die Rauter wollte ihn wohl nicht gehen lassen und all so was. Das ist ihm bestimmt nicht leicht geworden, vor allem wegen der Kinder. Mit Stella hat er keine mehr bekommen. Aber wer weiß? Vielleicht sind solche Ausnahmemenschen, wenn sie eine derartig romantische und leidenschaftliche Beziehung haben, sogar glücklicher nur zu zweit.“

„Du und Markus, ihr habt ja auch keine Kinder gehabt“, warf Frauke ein.

Und Melanie Wollschneider seufzte ein weiteres Mal, ohne zu antworten.

Adam besuchte seinen alten Freund Herbert Ebert.

Alter Freund übrigens im doppelten Sinn. Zum einen war er wirklich alt, sogar älter als Adam selbst, nämlich bereits 75. Darüber hinaus kannten die beiden sich seit mehr als fünfzig Jahren.

Herbert besaß kaum noch Haare auf dem Kopf; die wenigen sammelten sich als weiße Büschel hinter den Ohren und im Nacken. Etwas kleinere weiße Büschel saßen dicht über den runden dunkelblauen Augen.

Er streckte Adam eine grüßende Hand entgegen und bemerkte mit seiner quäkenden Altmännerstimme: „Du bist viel zu hübsch für einen gescheiterten Greis!“

„Ich weiß“, gab Adam freundlich zurück. „Ich kann mich noch so anstrengen, es gelingt mir nicht, auch nur halb so abschreckend auszusehen wie du!“

Darüber lachte Herbert wie ein Ziegenbock.

„Komm, nimm einen!“, verlangte er und schenkte mit so viel Schwung Whisky in ein großes Glas, dass sein Tischtuch nass wurde.

Adam betrachtete schockiert den halben Liter.

„Bist du verrückt? Soll ich darin baden? Willst du mich besoffen machen? Soll meine Leber ebenso kaputt gehe wie deine?“

„Es ist nicht die Leber. Es sind meine Nieren. Haben praktisch den Dienst quittiert. Die Ärzte haben auch keine Idee mehr. Komm, nimm jedenfalls ein Schlückchen. Ich entsorge später, was du stehen lässt. Auf unsere gescheiterten Träume!“

Sie tranken sich zu.

Herbert schaute seinem Freund durch den Zigarettenrauch aufmerksam ins Gesicht. „Erzähl mir von deinem Unglück, alter Freund.“

„Stella geht es recht gut“, erwiderte Adam.

Das brachte Ebert ausführlich zum Meckern. „Die schöne Stella! Unser aller Traum. Du hast sie abbekommen Und zur Strafe lässt sie dich leiden. Das tut mir gut. Da sitzen wir, der berühmte Regisseur und der große Produzent, einst gefeiert, jetzt nicht einmal mehr verachtet, sondern komplett vergessen.“

„Oh, nicht komplett. Mich hat kürzlich der ‚Merkur‘ interviewt, zu meinem siebzigsten Geburtstag.“

Herbert blinzelte. „Zu deinem Siebzigsten? Vier Jahre zu spät, oder?“

„Zwei Jahre zu spät. Immerhin. Sie wussten noch, wer ich war.“

„Ach wo, das haben sie sich aus dem Internet zusammen gekratzt – es sei denn, der Reporter war so ein Methusalem wie du und ich?“

„Der Reporter war eine sehr reizende, sehr junge Dame mit kurzem Haar, langen Beinen und Rehaugen. Und sie wusste ziemlich viel über mich, woher auch immer.“

„Was du nicht sagst. Sehr jung? Wie alt ist sehr jung? Jünger als vierzig?“

„Höchstens Ende zwanzig. Vielleicht erst Mitte zwanzig.“

„Ach so. Ich dachte, sie würde womöglich für dich in Frage kommen.“

Adam stellte das schwere, immer noch beinah volle Glas behutsam auf den Tisch. „Und du meinst, das ist nicht der Fall.“

„Natürlich nicht, ich bitte dich. Es gibt für alles Grenzen. Ja, wenn du immer noch richtig berühmt wärest, mein Lieber! Das ändert alles. Erfolg veredelt Aasgeruch. Aber so… Nein. Jeder Betrachter würde dich einfach für einen unappetitlichen Lustgreis halten. Mitte zwanzig! Das macht dich ja fast schon zum Kinderschänder, in der Relation betrachtet…“

Herbert versuchte, seine Füße auf den Tisch zu legen, verzerrte sein Gesicht schmerzlich und ließ es bleiben.

Die beiden alten Herren schauten versonnen aus dem Fenster in den Frühsommertag.

Nach einer Weile begann Herbert, leise in sich hinein zu meckern.

„Was ist komisch?“, wollte Adam wissen.

„Ich dachte nur gerade an Detlev von Liliencron. Dein Lieblingsprojekt. Dein Sehnsuchtsprojekt. Mann, hast du uns alle vollgequatscht mit Detlev…“

Adam Koschwitz lächelte wehmütig. „Ich sehe viele Szenen immer noch vor mir. Als gäbe es den Film, als hätten wir ihn tatsächlich gedreht.“

Herbert seufzte tief. „Na, ich bin froh, dass er nie entstanden ist, um ehrlich zu sein.“

Adam blickte überrascht auf. „Du bist froh darüber? Weshalb das?“

Herbert knautschte mit beiden Händen verlegen in seinen weißen Haarbüscheln. „Weil ich ein Mistkerl bin. Wir haben alle unsere unerfüllten Träume, jeder von uns. Wenn sich deiner erfüllt hätte, wäre ich vor Neid gestorben…“

Er trank einen tiefen Schluck aus seinem Glas und fügte hinzu: „Nun sterbe ich an Nierenversagen. Eigentlich ganz egal, woran. Weißt du, mein Junge, wir müssen realisieren, dass wir keine Perspektive mehr haben. Keine Perspektive mehr, das ist ein Faktum. Die Zukunft wächst langsam zu. Wo früher eine Zukunft war, da sieht man irgendwann nur noch Unkrautbüschel.“

Und als Adam eine zweifelnde Bewegung mit der Schulter machte, fuhr er in strengem Ton fort: „Widersprich mir nicht! Das Leben ist grell, hart, geschmacklos und ungerecht. Alles andere ist gelogen.“

In Adams Jackentasche gab es ein zirpendes Geräusch. Er kramte sein Telefon hervor, wischte es mit dem Zeigefinger lebendig, starrte es erstaunt an und tippte ein wenig herum.

Herbert sah sich das an und murmelte: „Ihr jungen Leute und eure Elektronik! Was ist passiert? Hast du einen Arzttermin verpasst?“

Adam las die Nachricht, die er bekommen hatte, tippte noch ein wenig herum und steckte das Telefon wieder in seine Tasche.

„Das war sie.“

„Stella, dein Hausdrachen?“

„Ina. Die kleine Reporterin heißt Ina. Sie will mich in der nächsten Woche sehen. Und vielleicht auch mal mit mir spazieren gehen…“

Er lächelte leicht und etwas hilflos.

Herbert schaute ihn mit offenem Mund an.

„Die Kleine will mit dir spazieren gehen? Ist sie kräftig genug, dich nach zwanzig Minuten zu tragen?“

Adam antwortete nicht. Er rieb sein Kinn und blickte nachdenklich vor sich hin.

Herbert griff nach dem großen, vollen Glas, hob es an seine Nase und schnupperte den Alkohol.

Nach einer Weile fragte Adam leise: „Vielleicht gibt es doch noch so etwas wie eine Perspektive?“

Herbert trank einige Schlucke. „Ich sag dir, wie unsere Perspektive heißt. Sie reduziert sich auf drei Fragen. Wird es schnell gehen? Wird es wehtun? Und gibt es ein Jenseits?“ behauptete er giftig.

Der achtundzwanzigste Juni war ein milder Tag mit verschleierter Sonne.

Adam machte sich fertig für den Ausflug mit Ina, ein Spaziergang in St. Peter-Ording.

Er duschte, wusch sein Haar, föhnte es und rasierte sich ein zweites Mal an diesem Tag.

Betrachtete nachdenklich sein Spiegelbild.

Nahaufnahme.

Konnte nicht umhin, das weiße Gekräusel auf seiner Brust zu bemerken. An das weiße Haar auf seinem Kopf hatte er sich gewöhnt. Es wurde sogar behauptet, das sähe recht attraktiv aus in Verbindung mit den immer noch überwiegend dunklen Augenbrauen.

Warum musste sein Brusthaar so weiß sein?

Es ist völlig egal, wie weiß es ist, entschied er. Darüber trage ich sowieso das grünkarierte Hemd und den grünen Pullover. Kein Mensch kann ahnen, welche Farbe diese Wolle hier hat.

Er knipste das Licht über dem Spiegel aus.

Knipste es wieder an.

Schäumte seine Brust ein und rasierte sie sorgfältig, mit grimmigem Gesichtsausdruck.

Übrigens war das ganz aktuell, hatte er erst kürzlich gelesen.

Körperbehaarung, noch vor einigen Jahrzehnten als animalisch-sexy gerühmt, galt nichts mehr. Neuerdings lag der höchste Reiz in säuglingshafter Ganzkörperkahlheit.

Adam strich mit der Handfläche über seine Brust. Eigentlich ein angenehmes Gefühl, so glatt…Ein bisschen zeitaufwändig natürlich, wenn er das jetzt alle paar Tage machen wollte…

Er trat einige Schritte zurück, hob einen Arm, schaute auf das Haar in seiner Achsel und nickte. Blickte an seinem Körper nach unten und nickte wieder.

Nun, wenn das Schicksal es vielleicht so wollte…

Er griff mit ergebener Miene die Dose mit dem Rasierschaum und den Rasierapparat, um noch einmal in die Dusche zu steigen.

Stella Gaban kam von Einkäufen nach Hause und fand auf dem Küchentisch einen Zettel:

Bin an der Nordsee, brauche Luft.

Kann spät werden.

A.

Sie zerknüllte das Papier. A – Punkt?

Hatte er nicht genug Zeit gehabt, seinen aus vier Buchstaben bestehenden Namen auszuschreiben? Oder gönnte er seiner Frau nicht den Anblick dieses Namens?

Weshalb hatte er nicht angerufen oder eine WhatsApp geschickt, wie sonst in solchen Fällen?

Weil sie dann hätte nachfragen können.

‚Warum gerade jetzt, mein Lieber? Und vor allem: mit wem zusammen genehmigst du dir Luft?‘

Aber das konnte sie sich ja denken.

Er hatte diese langnasige Reporterin inzwischen mindestens einmal getroffen. Vielleicht sogar öfter.

Gut, deren große Füße eigneten sich bestimmt hervorragend zum Herumlaufen im Watt.

Stella selbst hatte nie besonders Sinn für zu viel Natur gehabt. Sand im Haar und verklebte Wimpern von der Gischt, ja, vielen Dank auch!

Sie zog ihren Mantel aus, goss sich einen Cognac ein und wanderte auf hohen Absätzen im Wohnzimmer umher. Es galt zu planen.

Der große deutsche Regisseur lebte also seinen Johannistrieb aus mit so einem knochigen Etwas. Hauptsache, jung.

Und wenn zufällig jemand die beiden beobachtete? Sie konnte es sich vorstellen. Keine Titelzeile, dazu war Adam inzwischen zu uninteressant. Aber vielleicht eine kleine Notiz, ironisch und boshaft, mit der Frage: wo steckt denn eigentlich Stella Gaban?

Eventuell, wenn sie Glück hatte, mit einem ihrer alten Fotos.

Dann bedeutete es, man würde das unscheinbare Mädchen mit ihr vergleichen – dabei käme diese, wie hieß sie noch, Ina Strack, schlecht weg.

Womöglich jedoch auch mit einem dieser boshaften, gemeinen: Promis ungeschminkt-Fotos von ihr. So was gab es bereits im Netz.

Widerwärtige, neidische Menschen hatten ihr Mobil stets zur Hand, um schnell ein Foto zu machen. Darauf zeigte Stella dann mehr Doppelkinn als sie je im Leben gehabt hatte. Womöglich noch künstlich reingearbeitete Tränensäcke. Alles mit der Unterschrift: ‚Seht mal, wie sie jetzt ausschaut! Kein Wunder, wenn Koschwitz sich was Junges gönnt…‘

Und schon bot ihr nie wieder jemand eine vernünftige Rolle an.

Adams Verhalten war demnach geschäftsschädigend!

Stella schleuderte den Cognac gegen die Scheibe des Wohnzimmerfensters. Das blieb heil, während das Glas zersprang und in Scherben auf dem weißen Teppich lag, in einer rotbraunen Pfütze. Richtig, sie hätte erst austrinken sollen…

Isis sprang vom Sofa und starrte sie mit großen, missbilligenden Augen an.

„Was?!“, schrie Stella.

Die Katze schlich steifbeinig zu den Scherben in der Pfütze, schnupperte aus einiger Entfernung, gab der Menschenfrau noch einen missbilligenden Blick und verschwand lautlos aus dem Raum.

Stella achtete nicht darauf.

Sie brauchte dringend etwas, um den Schmerz zu mildern.

Trat vor den schnörkelig-goldgerahmten Spiegel und betrachtete sich selbst gierig, kritisch:

close-up.

Dann nur die Augenpartie:

Italian shot.

Wie hatte dieser nette junge Schauspieler geheißen, dem sie kürzlich vorgestellt worden war?

Valentin, oder? Der war jünger als die Reporterin. Oder nicht? Vielleicht genauso alt. Kaum über dreißig. Also ungefähr halb so alt wie sie selbst. Halb so alt, das ging noch. Dafür erntete man Bewunderung.

Zwei Drittel so alt – da machte man sich lächerlich. Zumindest als Frau.

Wo hatte sie seine Visitenkarte hingesteckt?

Sie fand das Kärtchen und wählte, ohne nachzudenken oder sich einen Text zurecht zu legen.

Valentin meldete sich auf der Stelle.

Eine weiche, schläfrige Stimme.

„Hier ist Stella Gaban. Sie erinnern sich, Valentin? Wir sind uns in der NDR-Kantine vorgestellt worden… von Hans Heumann.“

„Oh! Natürlich! Wie nett!“, sagte er.

Pause.

„Frau Gaban? Was kann ich für Sie tun?“

„Ähm… ja, ich wollte mit Ihnen über ein Projekt sprechen. Eventuell eine Rolle für Sie. Sie kamen mir in den Sinn, weil ich dachte, Sie könnten genau der erforderliche Typ sein. Große blaue Augen und ein sinnlicher Mund. Sie sind etwa eins fünfundachtzig groß, glaube ich?“

„Eins siebenundachtzig. Was ist das für ein Projekt? Hat das etwas mit Ihrem Mann zu tun?“

Stella merkte selber, wie gereizt sie war, eigentlich zu wütend, um zu flirten. „Nur bedingt. Es hat vor allem mit mir zu tun. Und mit Ihnen. Wir sollten uns zu einem Gespräch treffen, was halten Sie davon?“

„Ähm – gerne im Prinzip. Ja. Wann sollte das sein?“

„Sofort“, verlangte Stella, der bereits die Geduld ausging.

„Sofort – ?! Ich bin nicht – ich bin überhaupt nicht in Hamburg, wissen Sie…“

Aber er klang vor allem so, als würde er Angst bekommen.

„Wo sind Sie denn?“

„Augenblicklich?“, fragte er überflüssigerweise, wie um Zeit zu gewinnen. „Ja, in Stade. Ist nicht so weit weg, aber dauert lange, hin- und herzukommen. Ich weiß das, weil meine Freundin hier lebt…“

So, das war deutlich genug.

„Gut, dann vergessen Sie’s. Ich brauche Leute, die sofort reagieren können, ohne großes Wenn und Aber. Und mein Mann braucht die ebenfalls…“

„Ich verstehe nicht… Sie sagten, dass Ihr Mann nichts damit zu tun hat – ?“

„Vielleicht hab ich das gesagt – hab ich das sagen sollen, um Sie zu prüfen? Vielleicht bin ich beauftragt worden, festzustellen, wie Sie reagieren?“

Prüfungen, dachte sie ironisch über ihren eigenen Text. Hier wird einer auf seine Eignung geprüft.

„Frau Gaban…“

„Schon gut. Vergessen Sie’s…“ sagte Stella kurz und kühl und drückte das Gespräch weg.

Seine Freundin! Wie rührend. Der war selber schuld, wenn er keine Karriere machte, dachte sie, als hätte es wirklich ein derartiges Projekt gegeben.

Dies also war ein Fehlschuss gewesen.

Was für Möglichkeiten gab es noch?

Axel, ein Tontechniker, der seit Jahrzehnten versichert hatte, dass seine Ergebenheit für sie über alle Grenzen ging. Sie musste eine Weile in ihrem Notizbuch nach seiner Nummer suchen.

„Werz?“, meldete sich eine traurige Stimme.

Eine weibliche Stimme? War Axel eigentlich verheiratet gewesen?

„Ist Axel zu sprechen? Hier spricht Stella Gaban…“

„Axel?“ Die traurige Stimme klang noch trauriger. „Der ist nicht mehr.“

„Wie meinen Sie das?“

„Gestorben. Vor zwei Wochen. Tot. Weg…“ erklärte Frau Werz.

„Oh! Mein herzliches Beileid, Frau Werz. Sie sind eine Verwandte?“

„Die Tochter. Seine einzige Tochter…“ jammert sie traurige Stimme langsam und trostlos.

Stella verabschiedete sich so schnell, wie es höflicherweise möglich war.

Seine Tochter?

Aber die hatte selbst schon so alt geklungen.

Wie alt mochte Axel geworden sein? Ungefähr so alt wie Adam, schätze Stella.

Sie selbst war also jetzt schon so betagt, dass ihr die Verehrer unter der Hand verreckten, an Altersschwäche. Miss Sophie aus dem Sylvester-Sketch kam ihr in den Sinn: „Same procedure as last year?“ – O Gott!

Stella wollte nach oben gehen und stolperte fast über die Katze, die nun natürlich unbedingt vor ihren Füßen herumlaufen musste.

Sie öffnete die schmale Tür zum Garten, neben der sie gerade stand und schob das widerstrebende Tier mit dem Fuß nach draußen.

Draußen, Tag

Nur, wer Personal hat, kennt auch die damit zusammenhängenden Probleme.

Es gilt natürlich immer, Geduld und Nachsicht zu zeigen.

Aber Einiges geht einfach zu weit.

Die Köchin wohnte leider mit im Haus.

Sie servierte zweimal am Tag, und das machte sie ganz ordentlich. Für alles andere zeigte sie weder Talent noch Bereitschaft.

Beispielsweise besaß sie durchaus keine zärtlichen Hände.

Der Mann, der die Toilette putzte, war da entschieden begabter.

Er hatte Sinn für das richtige Kraulen an den richtigen Stellen. Und er verursachte nicht so viel Lärm.

Isis war, alles in allem, dafür, die Köchin zu entlassen. Schließlich verhielt es sich nicht so, dass die irgendwelche Mahlzeiten selbst herstellte. Sie öffnete lediglich Büchsen oder schüttete kleine Kekse aus Paketen.

Das hätte wohl zur Not auch ein anderer Mensch fertig gebracht.

Isis blieb auf der Gehwegkante sitzen, um nachzudenken.

Kürzlich war diese akzeptable Dame mit dem kurzen Fell noch einmal im Haus gewesen, zweckmäßigerweise als die Köchin Ausgang hatte. Die nette Dame verstand sich darauf, hinter den Ohren und am Lätzchen zu krabbeln, als hätte sie es studiert. Höchst angenehm.

Falls sie zudem in der Lage sein sollte, Büchsen zu öffnen, war dafür zu plädieren, dass sie die Köchin ersetzte.

Die Chancen standen vielleicht nicht schlecht, denn der Mann, der die Toilette putzte, hatte ausführlich am Maul der akzeptablen Dame herumgeschnuppert, bevor diese das Haus verließ.

Er schlief immer öfter im Zimmer mit den murmelnden Geräten, auf dem Sofa.

Und die Köchin veranstaltete immer mehr Lärm. Zwar unangenehm mitanzuhören, doch vermutlich ein Indiz, dass sie sich nicht wohlfühlte. Und wenn sie sich nicht wohl fühlte, würde sie möglicherweise verschwinden?

Eine kluge Katze hätte das getan.

Isis erhob sich und wandelte langsam und majestätisch über die Fahrbahn.

Ein Volvo, der in einigem Tempo um die Ecke bog, versuchte noch, ihr auszuweichen und geriet ein wenig ins Schleudern – erwischte sie jedoch trotzdem.

Isis bemerkte, dass sie ihre acht übrigen Leben bereits aufgebraucht hatte.

Drinnen, Nacht

„Liliencron!“, sagte Adam Koschwitz, „Der größte aller Lyriker für mich. Eine sinnliche Darstellung ohnegleichen. Expressionist und Naturalist, nein, Realist, sehr erdhaft und zugleich unendlich feinfühlig, kam auf feinsten Gedankenspitzen daher… Zwei Extreme eigentlich, die er souverän unter einen Hut brachte und beherrschte. Was für ein Leben. Was für ein Kerl!“

„So einer wie du!“, erklärte Ina und lächelte ihn an.

„Wirklich? Findest du?“, fragte Adam erfreut und leicht verlegen.

„Ja, finde ich. Solch vielschichtige Werke kriegen nur Zwillinge fertig“, behauptete sie und senkte ihre Nase in ihr Bierglas.

„Ach, war der auch einer – ja, stimmt wohl, natürlich. Anfang Juni, oder? Ach, und Zwillinge sind also so – ?!“

„So vielschichtig. Auf jeden Fall“, erwiderte Ina. Ihre Wangen glühten nach dem Spaziergang, zum Schluss war doch Wind aufgekommen.

Der Kellner servierte das Deichlamm und den Steinbeißer.

„Und würdest du ihn gern mit einem einzigen Darsteller besetzen – oder mit einem für den jungen und einem für den älteren Liliencron?“

„Das kommt unter anderem auf das Drehbuch an. Am liebsten natürlich mit einem einzigen, wenn ich ihn mir leisten könnte: Leif Hansen. Der spielt mir den schneidigen jungen Offizier so gut wie den dicken alten Schnauzbart, da brauchen wir nicht mal viel Maske…“

Ina säbelte ein Stückchen vom Lamm ab, kaute sorgfältig und erklärte mit gekrauster Stirn: „Kannst du mir glauben, dass von Liliencron tatsächlich immer mein Lieblingsdichter gewesen ist? Seit jeher? Noch vor der Konfirmation?“

Adam lächelte. „Ich möchte es dir glauben. Es wäre ein netter Zufall. Ich glaub’s dir einfach mal. Und selbst, wenn du es nur sagst, damit ich mich wohl fühle – dann hast du deinen Zweck erreicht. Ich fühle mich wohl.“

Sie tupfte ihren Mund mit der Serviette ab und sprach behutsam und mit respektvollem Ausdruck:

„Im ersten matten Dämmer thront

der blasse, klare Morgenmond.

Den Himmel färbt ein kühles Blau,

der Wind knipst Perlen ab vom Tau.

Der Friede zittert – ungestüm

reckt sich der Tag, das Ungetüm!

Und schüttelt sich und brüllt und beißt

und zeigt uns so, was leben heißt.

Die Sonne hat den Lauf vollbracht

und Abendröte, Mitternacht.

Im ersten matten Dämmer thront

der blasse, klare Morgenmond.

Und langsam frisst und frisst die Zeit

und frisst sich durch die Ewigkeit…“

Adam lehnte sein Besteck sehr vorsichtig gegen den Tellerrand und starrte die junge Frau gegenüber an.

„Ich glaube dir“, sagte er leise. „Er war wirklich immer dein Lieblingsdichter…“

Und während Ina weiter aß, starrte er auf das Tischtuch. Nach einer Weile wiederholte er leise: „Und langsam frisst und frisst die Zeit und frisst sich durch die Ewigkeit… Oh, mein Gott. Ich bin so alt, weißt du?“

Sie nickte. „Ich weiß. Und?“

„Und ich habe gar nicht mehr lange zu leben. Vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre. Und falls es doch länger dauert, dann wird es unästhetisch…“

„Das glaube ich nicht.“

„Ich könnte dein…“

„Großvater sein. Hast du schon mal gesagt. Das ist ein dummes Argument. Du könntest mein Lehrer sein. Du könntest mein Chef sein. Du könntest mein Liebster sein. Oder mein Ehemann. Du könntest alles Mögliche sein.“

„Chef und Lehrer – ja, natürlich. Aber Ehemann oder Liebster? Die Menschen würden sich natürlich nicht fragen, was mit mir los ist. Aber sie würden sich fragen, was mit dir los ist.“

„Das ist deren Problem.“

„Ich hätte dich nicht küssen sollen, neulich, an der Haustür.“

„Oh doch, das musstest du tun, unbedingt! Wenn du es nicht gemacht hättest, hätte ich es getan!“, versicherte sie.

„Meinst du? Aber weshalb?“

„Weil ich verliebt in dich bin. Weil du ein ganz atemberaubender Mann bist. Weil ich dich bewundere und sympathisch finde und ein wenig Mitleid mit dir habe und – verliebt in dich bin.“

„Du hast ein wenig Mitleid mit mir?“ widerholte Adam ungern.

Ina nahm eine grüne Bohne zwischen zwei Finger und steckte sie in den Mund. „Ja, wegen deiner Ehe. Weißt du, bis zum Interview dachte ich, du wärst glücklich. Dann kam sie, noch vor dir, ins Zimmer und hat so hässlich über dich gesprochen. Sie hat dich mit zwei Sätzen vernichtet, hat versucht, dich lächerlich zu machen. Schmerzhaft anzuhören. Sicherlich war sie früher anders. Du musst sie ja einmal sehr geliebt haben…“

„Muss ich? Wie kommst du darauf?“

„Oh, iss weiter, bitte. Dein Fisch wird kalt.“

Adam legte sein Besteck endgültig weg, die Griffe schräg nach rechts, wie es sich gehörte.

„Ich bin satt.“

„Tatsächlich? Hoffentlich nicht durch etwas, das ich gesagt habe? Ja, weshalb glaube ich, das muss große Liebe gewesen sein? Weil sie so schön ist? Nein… Du hast eine andere Frau und zwei Kinder für sie verlassen. Deshalb. Darum denkt natürlich jeder, es war die ganz große Liebe.“

Adam schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster in den hellen Sommerabend.

„Nein, gar nicht. Es war eine Affäre und die ist aufgeflogen. Alle waren entsetzt und entrüstet und beleidigt und was übrig blieb, waren Stella und ich. Da musste ich sie heiraten.“

„Warum musstest du?“

„Um zu beweisen, dass etwas Tieferes dahinter stand, glaube ich. Weil die Menschen es erwartetet haben. Außerdem, manchmal ist sie ganz amüsant.“

Ina riss ihre großen braunen Augen noch weiter auf. „Und weil sie manchmal ganz amüsant ist, bist du dreißig Jahre mit ihr zusammen geblieben?“

Adam zuckte mit den Schultern. „Wie hätte das denn ausgesehen, wenn ich mich von ihr auch wieder getrennt hätte?“

Ina lehnte sich zurück, ihre Augen glänzten im Licht der Kerze auf dem Tisch. „Weil ‚die Menschen‘ es erwartet haben, hast du diese Frau geheiratet und warst dreißig Jahre lang unglücklich? Und weil ‚die Menschen‘ sich darüber Gedanken machen, willst du den Rest deines Lebens – fünfzehn oder zwanzig Jahre, sagst du – weiter unglücklich sein? Bist du verrückt? Ich möchte gern, dass du den Rest deines Lebens glücklich bist, weißt du?“

Sie griff über den Tisch, nahm seine rechte Hand und legte sie an ihre Wange.

Er schüttelte den Kopf. „Ich kann… Ich weiß nicht… Ich habe Angst.“

„Wovor?“

„Vor… Ich höre nicht mehr so ganz gut, zum Beispiel.“

„Ich werde deutlich sprechen. Ich werde dein Ohr sein. Ich wollte immer schon gern Script-Girl sein! Mach mich zu deinem Script-Girl, dann kann ich darauf achten, dass du alles verstehst und dass keiner merkt, wenn du es nicht tust.“

Adam schüttelte schon wieder den Kopf. „Ich werde sowieso keinen Film mehr machen in diesem Leben…“

„Das wird sich noch zeigen. Was hast du noch zu beklagen? Bist du inkontinent oder impotent oder so was?“

Adam musste lachen. „Und wenn ich’s wäre? Nein, keine Sorge, so schlimm ist es nicht…“

Ina drehte seine Hand um und küsste seinen Daumenballen. „Du bist ein dummer Mann, bei aller Klugheit. Du kannst nichts vorbringen, das mich abschreckt, gib lieber gleich auf. Es stimmt nicht, dass ich verliebt in dich bin. Es verhält sich vielmehr so, dass ich dich liebe, dagegen kannst du überhaupt nichts machen. Und das ist unabhängig davon, wie alt du bist oder wie groß du bist oder wie gesund du bist. Ich liebe dich. Ich würde mein Herz in Streifchen schneiden und dir etwas Schönes daraus basteln, wenn du möchtest…“

Adam kämpfte ganz enorm dagegen an, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. Das fehlte gerade noch. Nicht nur Greis, sondern sentimentaler Greis!

Stattdessen räusperte er sich und fragte: „Findest du, wir sollten hier übernachten?“

Ina nickte und lächelte, breit und begeistert.

„Gut. Dann werden wir – ohne Gepäck und Zahnbürste…“

„Ich habe eine Zahnbürste mit. Und Duschgel. Das können wir teilen. Ich hatte gehofft, dass wir hier irgendwo übernachten. Ich hab auch meine Beißschiene mit. Siehst du, ich bin auch gebrechlich. Kannst du damit leben?“

Sie blickten sich tief in die Augen, bis Adams Telefon in seiner Tasche surrte.

Er öffnete die Nachricht und teilte ihr erschrocken mit: „Von Stella. Die Katze ist überfahren worden! Tot…“

„Oh! Das tut mir furchtbar leid. Sie war eine besonders nette Katze. So sehr hübsch. Ach, Adam, wie traurig…“

Er sah, dass sich jetzt ihre Augen mit Tränen füllten.

Dann straffte Ina energisch ihre Schultern. „Wir kaufen uns eine neue Katze. Oder einen Hund mit Schlappohren!“

 

Flughafengebäude, totale.

Florian Strack wurde von seiner kleinen Schwester hingebracht, durch trommelnden, pladdernden, aggressiven Regen, gegen den die Scheibenwischer kaum ankamen.

Obwohl sie die wenigen Meter vom Parkhaus zur großen Drehtür rannten, wurden beide ein wenig nass.

Ina schüttelte im Terminal lachend das kurze Haar aus.

„So. Dann wünsche ich dir einen guten…“

„Ini, so kommst du mir nicht weg!“, fiel Florian ihr ins Wort. Er setzte seinen kleinen Koffer ab, nahm ihre beiden Hände und sah ihr eindringlich ins Gesicht. „Bevor ich losfliege, sagst du mir bitte, wofür du dein Geld jetzt nehmen möchtest. Das sollte definitiv für diese beiden netten Eigentumswohnungen sein, als Sicherheit für dich, vielleicht eines Tages zum Selber-drin-wohnen in der einen. Das war doch abgemacht! Das stand doch praktisch schon fest! Und jetzt auf einmal – was soll denn das?“

Ina warf den Kopf mit einer trotzigen kleinen Bewegung zurück und ihr Bruder lächelte. „Wenn du es nicht sagst, fliege ich nicht ab. Dann bist du schuld, wenn…“

„Ach, Flor! Das ist gemein, das ist Erpressung! Hör mal, das ist mein Geld und ich bin lange, lange volljährig und das geht dich alles überhaupt nichts an!“

„Ich weiß, meine Süße. Da hast du ja auch Recht. Aber ich bin eben nicht nur Bruder, sondern auch Bankmann und Berater. Ich hab dich noch nie schlecht beraten, musst du zugeben?“

Ina schaute mit etwas vorgeschobener Unterlippe an Florian vorbei, konnte jedoch nicht umhin, den Kopf zu schütteln.

„Siehst du. Ich möchte es eben nur wissen und meine Meinung dazugeben. Entscheiden wirst du dann natürlich selbst. Aber erst, nachdem du dir hast durch den Kopf gehen lassen, was ich gesagt hab. Abgemacht?“

Ina zog ihre Hände an sich und steckte sie in beide Manteltaschen. Ihr Blick kam zurück ins Gesicht ihres Bruders. Sie nickte.

„Also?“

„Also. Ich will einen Film mitproduzieren. Mitfinanzieren. Ja, übrigens werde ich dazu auch noch einen kleinen Kredit aufnehmen…“

„Was?! Über dein gesamtes Erbe hinaus willst du auch noch Schulden machen? Ini – !“

Sie schob die Unterlippe wieder nach vorn und sah an ihm vorbei.

Florian seufzte. „Was für ein Schinken soll das denn werden, der so viel kostet? Wird ‚Cleopatra‘ noch mal neu verfilmt?“

Ina lächelte. „Filmen ist viel teurer, als du denkst, Flor. Also, ich hab vorigen Monat Adam Koschwitz interviewt. Der Name sagt dir hoffentlich was?“

Er nickte. „So ein Jungfilmer von damals. Ach, und der alte Mann hat dich dazu überredet, ihm…“

„Nein!“, rief Ina böse. „Nein, hat er nicht. Er weiß noch gar nichts davon. Und warum sagst du alter Mann? So alt ist er nicht. Er hat eben sehr jung angefangen, das macht dann immer den Eindruck, als wäre jemand schon seit dem letzten Jahrhundert unterwegs!“

„Entschuldige, Ini, Koschwitz ist seit dem letzten Jahrhundert unterwegs. Das sind ja sogar wir beide. Das ist…“

„Dann eben seit dem vorletzten!“, unterbrach seine Schwester wütend und stampfte ein wenig mit dem rechten Fuß auf. „Hör doch mal zu, Flor, du glaubst, das Geld ist hinterher weg, aber das ist es nicht. Im Gegenteil. Es ist die Gelegenheit einer wunderbaren Investition. Adam hat immer noch einen Namen und einen Ruf, es wird eine Sensation werden, wenn er noch mal einen Film macht, die Promotion wird enorm sein, dafür werde ich auch sorgen – wir werden einen gewaltigen Gewinn erzielen! Er wird hinterher bestimmt noch weitere Filme machen. Ach ja, und weil ich… also ich bin – ich werde als seine Assistentin bei den Dreharbeiten dabei sein.“

Sie stampfte noch einmal, zur Bekräftigung, auf.

Florian trat einen Schritt zurück und musterte nachdenklich ihr Gesicht.

„Okay. Wie lange dauern denn diese Dreharbeiten?“

„Voraussichtlich zwei bis drei Monate, ab März.“

„Und so lange nimmst du Urlaub?“

„Ich werde – ich habe gekündigt.“

Florian gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. „Du hast beim Merkur gekündigt?!“

Ina nickte nur. Sie war sehr blass und zitterte ein wenig.

Wahrscheinlich war ihr Trenchcoat zu dünn für Ende Oktober.

Ihr Bruder schüttelte den Kopf. „So, Adam also. Er ist doch mit diesem tollen Rasseweib verheiratet, wie heißt sie, Bella – ?“

„Stella. Und sie ist nicht toll. Sie ist eklig. Und er wird sich scheiden lassen.“

„Ach, wird er das. Ini, entschuldige, du klingst gerade nicht wie siebenundzwanzig sondern wie siebzehn. Völlig verknallt und völlig unrealistisch. Süße, du wirst durch all diesen Kram nichts als Probleme und Kummer haben, glaub mir das. Du wirst von dem alten Filou ausgenutzt, weil der merkt, wie du ihn anschwärmst. Der wird sich ganz bestimmt nicht scheiden lassen. Solche Leute lassen sich nicht von einer Traumfrau scheiden wegen… wegen so was wie uns…“

Sein Flug wurde aufgerufen und Florian kam in Bewegung.

„Hilfe – ich muss ja noch einchecken! Ini, wir reden noch mal drüber, wenn ich zurück bin, okay? Tu bis dahin bitte nichts, okay?“

Er küsste sie hastig auf beide Wangen, drehte sich um und rannte davon.

Ina Strack blieb stehen, immer noch beide Hände in den Manteltaschen, den Mund trotzig zusammengepresst.

Sie beobachtete, wie ihr Bruder sich durch die Menschenmassen drängelte und sprach leise vor sich hin: „Er lässt sich aber doch scheiden wegen so was wie mir. Und von dem Geld weiß er sowieso noch nichts…“

Adam hörte die Meldung von Herberts Tod in den Abendnachrichten. Hinterher gab es noch einen eilig zusammengeschusterten Nachruf. Der große Produzent aus der Zeit des Neuen Deutschen Films…

Also war er nicht durch seine Nieren gestorben, sondern hatte in der Badewanne einen Herzanfall erlitten und war vermutlich ertrunken.

War es schnell gegangen? Hatte es wehgetan? Und befand der alte Halunke sich jetzt im Jenseits?

Adam rief bei Ina an. „Herbert Ebert ist tot, ich weiß nicht, ob du es schon – ?……… Ah, nicht. Er war ein Freund von mir, einer meiner besten und ältesten Freunde, weißt du? Wir haben uns kürzlich noch gesehen und ich hab ihm übrigens von dir erzählt. Er hat gemeint, ich bin ein Kinderschänder, jedenfalls in der Relation – ……… Wie? Nein, nur, weil du so jung bist……… Ja, das hat er gesagt. Er hatte ein schreckliches Schandmaul, sein Leben lang. Aber er war ein guter Freund. Ich werde ihn vermissen. Ina, Herbert war nur ein paar Jahre älter als ich. Wenige Jahre. Ich dachte eben – es ist verantwortungslos, einen so jungen Menschen wie dich an mich zu binden. Du bist ja von vornherein ans Grab gebunden, verstehst du? Ina? …………………………………………………………………………….

Nein, Moment, das will ich nicht damit sagen. Nein, ich will mich keineswegs meinen Verpflichtungen entziehen. Ich trenne mich unter allen Umständen von Stella. Ich will es ihr heute Abend sagen, heute Abend ist sie Zuhause, das war seit einer Weile klar, ich hatte mir das so vorgenommen. Die Scheidung ist beschlossene Sache. Aber weil ich mich von ihr trenne, bedeutet das nicht, dass du dich an mich binden musst. Das ist davon unabhängig……………………………………….

Nein, aber nein! Das bedeutet keineswegs, ich will dich nicht mehr. Ich will dich ununterbrochen, ich kann gar nicht anders. Ich finde nur, es ist rücksichtslos von mir, dich an mich zu binden, in meinem Al……… Ich……… Ina ………………………… Warte doch bitte mal ……… ………………………………………….Ich liebe dich. Das steht fest. Das steht wirklich fest. ……………………………………………………………….. Ja, warum habe ich angerufen? Weil ich so traurig war über Herbert. Traurig und verstört. Man ist nie zu alt, um manchmal in den Arm zu müssen. Ina, ich kann dir nichts versprechen. Ich meine, ich kann dir nicht versprechen, dass ich nicht ebenfalls in einigen Monaten…………………..……… Du kannst mir sehr viel versprechen? Und du wirst es auch ganz bestimmt halten?……………………………………………………………. Das ist schön. Ich danke dir. ………Ja, viel besser. Viel besser! Ich danke dir. Ich danke dir…“

Dass Adam Affären hatte, hier und da, das war einkalkuliert.

Stella war selber nicht immer bis auf’s I-Tüpfelchen treu gewesen.

Der große Udo Jürgens hatte das mal in einem Interview sehr schön formuliert: weniger attraktive Menschen wissen nicht, wie das ist mit den Anfechtungen.

So. Kein großes Problem also im Prinzip.

Aber die Scheidung?

Die Scheidung wegen dieser mageren Riesenmaus mit Riesennase und Riesenfüßen?

Bloß, weil sie jung war?

Oder vielleicht zusätzlich noch, weil die irgendwoher einen Haufen Schotter hatte und Adam damit kaufen konnte?

Er durfte endlich seinen dämlichen gottverdammten Liliencron drehen und musste dieses Mädchen aus lauter Dankbarkeit heiraten? War das der Deal?

Stella flog am ganzen Körper. Vom Cognac wurde ihr übel, so weit war es mit ihr gekommen.

Wer heiratete denn überhaupt noch?

Er konnte ja mit dieser Person mehrere Kinder haben, falls er noch welche zustande brachte, auch ohne Trauschein. Das war sowieso die schickere Methode, cool hieß so was  inzwischen.

Deshalb musste er sich nicht gleich scheiden lassen.

Deshalb musste Stella nicht gleich das Gesicht verlieren.

Jedenfalls nicht so ganz und gar…

Sie konnte auch noch Rollen spielen, sogar gute Rollen. Nicht unbedingt Mütter. Oder wenn, dann verführerische Mütter, so was gab es auch.

Wenn ihr doch nur jemand mal so was anbieten würde!

Aber diese Rollen bekamen eben immer dieselben Schauspielerinnen. Immer dieselben Gesichter.

Sie nicht mehr.

Wie sollte es denn nun mit ihr weitergehen? Wo sollte sie denn hin?

Sie hatte sich jetzt also wegzuscheren, geh mal beiseite, Stella, du bist nicht mehr dran. Kein Scheinwerfer mehr auf dich. Verschwinde in den Kulissen.

Sieh zu, wo du langsam vor dich hin welkst.

Lieber jetzt sterben.

Lieber in diesem Augenblick gehen. Noch sah sie gut genug aus, um eine ansehnliche Leiche abzugeben.

Tot schaute sie übrigens allemal noch besser aus als diese Bohnenstange von dritter Frau Koschwitz im lebendigen Zustand.

Stella zerknautschte ihre Zigarette energisch im Aschenbecher.

Adam hatte nach ihrer kurzen ‚Unterredung‘ das Haus verlassen. Sicherlich war er zur Riesenmaus gefahren.

Nun, es war nicht zu erwarten, dass die beiden glücklich werden würden.

Wie konnten sie sich jemals gegenseitig in die Augen sehen ohne entsetzliche Reuegefühle, weil sie das Leben der rechtmäßigen Gattin auf dem Gewissen hatten?

Darauf konnte kein Segen ruhen.

Sie würden sich gegenseitig vorwerfen, schuld zu sein. Sie würden sich bald schon wieder trennen.

Ihr dusseliger Dichter-Film würde floppen, weil jeder in der Branche und dazu das gesamte Publikum ihnen Stellas Verzweiflungstat übel nehmen würde.

Sie setzte sich an ihren Schminktisch, drehte den zehnfachen Vergrößerungsspiegel zu sich und schaltete das superhelle LED-Licht ein.

Klappte das Creme-Makeup auf und betupfte ihr Gesicht mit dem Schwämmchen überall gleichmäßig.

Formte dann mit dunklerem Mousse Wangenschatten. Setzte Highlights auf den Lippenbogen und seitlich unter die Augenbrauen. Puderte alles sorgfältig mit dem großen weichen Pinsel, bevor sie ganz seitlich auf die Jochbeine etwas Rouge gab.

Suchte sorgfältig unter den verschiedenen Lidschattendöschen die richtige Farbe. Was würde sie anziehen? Den olivgrünen Pulli, dazu nahm sie die großen goldfarbenen Ohrringe mit den grünen Steinen.

Also olivgrüner Lidschatten.

Stella bekam bessere Laune beim Anblick ihres Spiegelbildes. Sie pfiff leise vor sich hin. Erst die braune Tusche, dann mit dem sauberen, dicken Bürstchen die Wimpern getrennt, alles mit dem dicken Pinsel eingepudert – so, kurzfristig sah sie aus wie Tilda Swinton. Darüber jetzt die schwarze Wimperntusche…

Sie bürstete ihr Haar energisch zurück und zupfte es in die Stirn.

Das Ergebnis ihrer Bemühungen wirkte so erfreulich, dass sie lächelte.

Nachdem Stella sich umgezogen hatte, rief sie einen Pressefotografen an, den sie ganz gut kannte. „Olli? Hier ist Stella Gaban. Wie spät hast du es exakt?“

Der Mann im Telefon brummelte: „Einundzwanzig Uhr drei. Wieso?“

„Pass auf. Genau um einundzwanzig Uhr dreiundzwanzig springe ich von unserem Balkon im zweiten Stock auf die Terrasse…“

„Warum das denn, um Gottes Willen?!“

„Adam will mich verlassen. Lässt sich scheiden, um eine hässliche junge Gans zu heiraten. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Du kannst mich nicht hindern, Olli. Aber du kannst gegen Viertel nach neun den Rettungswagen anrufen und sagen, ich hätte dich angerufen und sehr geweint und irgendwie so nebulös von Abschied gesprochen und dir sei die Sache nicht geheuer. Und du würdest jetzt auch gleich an unserem Haus aufschlagen. Alles klar?“

„Aber Stella, du…“

„Ach, und nimm bitte den Blitzlichtfilter, die Terrassenbeleuchtung reicht nie im Leben für gute Fotos. Und Olli, ich bitte dich, bearbeite die Bilder ein wenig, ja? Vor allem den Hals, du weißt schon…“

„Ich verstehe. Exklusiv?“

„Exklusiv“, bestätigte sie

Stella öffnete die Balkontür im zweiten Stock weit. Die Gardinen wehten malerisch im kalten Nachtwind.

Sie ging bedachtsam auf ihren hohen Absätzen die Treppe hinunter, verließ das Haus durch die vordere Haustür, die sie hinter sich zuschlug und marschierte über den Gartenweg um zwei Ecken zur hinteren Terrasse.

Glücklicherweise regnete es nicht mehr.

Kalt war es trotzdem. Sie rieb sich vorsichtig eine Handvoll Sand auf die rechte Wange und die rechte Schläfe. Das tat weh, weil sie vorher im Haus schon diese Stellen mit der Nagelfeile bearbeitet hatte, bis etwas Blut kam.

Stella legte sich so bequem wie möglich auf den Rücken, die Beine seitlich umgekippt, einen Arm nach oben ausgestreckt, einen über dem Magen.

Hoffentlich trödelte dieser Olli nicht herum…

Aber da hörte sie schon von Ferne das Signal des Rettungswagens. Gleichzeitig wurde vor dem Haus eine Autotür zugeschlagen und schwere Schritte kamen über den Kiesweg auf sie zu.

Stella schloss die Wimpern, öffnete die Lippen ein wenig und atmete kurz und hastig.

Premierenkino, totale

Anderthalb Jahre später brachte Melanie Wollschneider ihre Freundin Frauke zur Premiere des in Cannes preisgekrönten Films ‚Trutz, Blanke Hans‘ zum CinemaxX am Dammtor.

Es herrschte beachtliches Gedränge an diesem kühlen Sommerabend. Grelle, riesige Scheinwerfer beleuchteten den roten Teppich, der die Seiten mit dicken Kordeln für die Zuschauer begrenzte.

Die beiden Frauen schafften es, sich ganz nach vorn durchzudrängeln.

Nun standen sie zwischen quiekenden Autogrammjägern, die von den vorbeigehenden Stars wirklich Unterschriften bekamen.

Melanie erklärte ihrer Freundin, um wen es sich bei den vielen Promis handelte: „Guck, da läuft Matthias Schweighöfer, der spielt natürlich eine größere Rolle in dem Film, genauso wie dort, da vorne, Karoline Herfurth. Wer das da ist, weiß ich nicht, kenne ich nicht, kann nichts Besonderes sein. Wird ja auch nicht um ein Autogramm gebeten. Da erscheint gerade Iris Berben, meine Güte, wie gekonnt die Frau auf solchen Absätzen unterwegs ist, was? Entzückend ist die immer noch, mir der Reife kommt doch erst die wirkliche Schönheit, sage ich immer. Ich finde wirklich, seit ich vierzig bin, kriege ich erst so neue Gesichtszüge, verstehst du, irgendwie Charakter. Vorher ist das nichts. Oh, schau bloß, da hinten ist Fathi Akin, der Regisseur, weißt du? Ich hab keine Ahnung, was der hier will, der hat doch mit dem Film nichts zu tun? Na, vielleicht will er sich nur amüsieren. Und dort, siehst du…“

Aber Frauke unterbrach sie: „Ja, wer das ist, weiß ich selbst, das ist der Moritz Bleibtreu.“

Melanie hob sich auf die Zehenspitzen, um zu erkennen, wer noch da war.

„Kommt denn auch dein Liebling, diese Stella Garber?“ erkundigte Frauke sich. „Die ist doch mit dem Regisseur von diesem Film verheiratet?“

Melanie blickte ihre Freundin völlig erschüttert an. „Das glaubst du, ja? Ich kann es nicht fassen. Wie ist so was möglich!“

Frauke machte ein schuldbewusstes Gesicht. „Hab ich was falsch verstanden? Du hast mir doch erzählt, wie du als kleines Mädchen…“

„Oh mein Gott. Bekommst du denn überhaupt nichts mit? Die beiden hätten sie doch fast umgebracht!“

„Welche beiden? Wen? Die Stella Garber?“

Gaban heißt die Frau, du Ignorantin. Ja. Ihr Mann und seine Neue. Stella Gaban hat doch im Herbst vorletztes Jahr einen Selbstmordversuch gemacht!“

„Nein!“

„Ja! Sie ist aus dem Fenster gesprungen im zweiten Stock und hat unheimliches Glück gehabt und sich nur einen Arm gebrochen. Oder ein Bein, ich weiß nicht… Stand groß und breit in jeder Zeitung. Das war, weil Adam Koschwitz eine Neue hatte. Mit der ist er jetzt sogar verheiratet. Ja, liest du denn so was nicht?“

Frauke sah sehr betreten aus. „Ehrlich gesagt, seit wir nicht mehr zusammen wohnen, macht mich niemand mehr darauf aufmerksam, deshalb…“

Melanie Wollschläger schüttelte den Kopf.

„Und – hat sie es überlebt?“

„Ich sag doch gerade, sie hat Glück gehabt und sich nur den Arm gebrochen. Oder das Bein. Und durch das allgemeine Mitleid und die Aufmerksamkeit hat sie übrigens dann auch wieder neue schöne Rollen bekommen. Ich gönne es ihr so! Sie ist doch jetzt die ganz neue Kommissarin im Tatort, weißt du?“

„Ach, die ist das? Natürlich, du hast Recht…“

„Natürlich habe ich Recht“, brummelte Melanie. „Ah, sieh her, da kommt er ja, dieser Lump!“

„Welcher Lump?“

„Koschwitz mit seiner neuen Gemahlin. Die ist übrigens vierundzwanzig oder sogar erst dreiundzwanzig, könnte seine Enkelin sein.“

„Aber Johannes Heesters…“

„Das war doch ganz etwas anderes, ich bitte dich! Dessen junge Frau hatte doch Format und war selbst jemand, also Schauspielerin. Und sie war nicht so völlig albern viel jünger. Aber diese hier? Die ist ein Niemand. War wohl seine Assistentin bei irgendwelchen Dreharbeiten, da haben sie sich kennen gelernt. Bei diesem Film hat sie auch wieder einen Job gehabt. Da weiß man doch, was dahinter steckt: Er ist allein scharf auf ihre Jugend. Und sie ist allein scharf auf sein Geld! So läuft das und nicht anders. Also ich bitte dich, Frauke, schau sie dir an! Lang und dünn, wenn die lacht, sieht man das Zahnfleisch…“

Frauke fand eigentlich, die junge Frau Koschwitz, die da so strahlend neben ihrem Mann herging, besaß schöne große Augen und sah recht attraktiv aus.

Aber diese Ansicht behielt sie hübsch für sich…


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert