‚Ein Weihnachtslied in Prosa‘ wurde am 19. Dezember 1843 zum ersten Mal veröffentlicht.
Mit 31 Jahren war Charles Dickens bereits ein berühmter Mann, seit sieben Jahren verheiratet und Vater von vier kleinen Schreihälsen. Er hatte die Pickwick-Papers geschrieben und Oliver Twist, er gab verschiedene Zeitungen heraus und las öffentlich aus eigenen Werken sehr erfolgreich vor großen Publikumsversammlungen.
Er änderte mit dieser ersten (und berühmtesten) seiner Weihnachtsgeschichten eine Menge an der Auffassung und am Ausrichten des Festes speziell in England und Amerika.
Dickens, behaupten viele Engländer, habe Weihnachten erfunden. Zumindest diese ganz spezielle Art von Weihnachten, die sich ziemlich vom orientalischen Ursprung des Christentums löst und eine westliche, familiäre Idylle daraus formt. Wenn wir sagen (und es für unser gutes Recht halten) „Weihnachten ist doch das Fest der Familie!“, dann hat das wenig mit der Kirche und viel mit der häuslichen Behaglichkeit der Biedermeier-Gesellschaft zu tun.
Der große Autor beschrieb Weihnachten nicht nur, er zelebrierte es in seinem Haus. Mit seinen neun Kindern, mit vielen anderen Verwandten und mit Freunden und Bekannten veranstaltete er Spiele und Scharaden, Theaterstücke und natürlich Lesungen. Er dekorierte und schmückte sein Haus selbst, auch wenn er in Gefahr war, von hohen Leitern zu fallen, er kümmerte sich um die Reihenfolge des Festessens und die Ausstattung der Gästezimmer. (Dickens hatte gern Gäste, Hans Christian Andersen ausgenommen, der statt der 14 Tage, zu denen er eingeladen war, beinah biblische 40 Tage blieb und die Dickens-Familie durch seine Exzentrik fast zu Tode nervte. Als er abgereist war, schrieb der erleichterte Gastgeber auf den Spiegel im betreffenden Raum: ‚Hans Andersen schlief fünf Wochen in diesem Zimmer. Der Familie kam es vor wie eine Ewigkeit‚. Doch das ist der einzig bekannte negative Fall.)
Dickens war eben Wassermann. Dieses Sternzeichen liebt, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, Menschen. Auch gern Menschenmassen. Er hätte vermutlich unter einem Lockdown besonders gelitten.
Dickens schilderte allerdings keineswegs nur die zufriedenen, wohlhabenden Figuren, die sich unterm Mistelzweig mit Punsch zuprosten. Im Gegenteil, gerade er als Sozialreformer hatte die anderen im Blick, die Armen, Bedürftigen.
Trotz der Behaglichkeit in der Familie handelt es sich bei seinem Weihnachtslied in Prosa immerhin um eine ziemlich gruselige Gespenstergeschichte: Der Geizhals Ebenezer Scrooge (sein Name ist in englischsprachigen Ländern derart sprichwörtlich geworden, dass ’scroogen‘ als Synonym für Geiz und Misanthropie benutzt wird. Donalds geiziger Onkel, bei uns Dagobert, die reichste Ente der Welt, heißt im Original Scrooge McDuck; da ist auch die Knauserigkeit der Schotten miteingearbeitet) erhält in der Weihnachtsnacht Besuch von drei Geistern und einem Gespenst. Letzteres ist sein verstorbener Teilhaber Marley, klirrend von den Ketten des Besitztums, den er nicht loslassen wollte und jetzt mit sich herumschleppen muss. Er warnt Scooge, der nach seinem Tode noch viel mehr von dem Zeug tragen wird.
Und er kündigt den Besuch von drei weiteren Geistern an. Die suchen Scrooge in dieser Nacht heim, zuerst der Geist der der vergangenen Weihnacht. Er zeigt dem alten Geizkragen gewissermaßen Videos (oder Visionen) aus seiner Kindheit und Jugend, Erinnerungen, die vom alten Mann sonst tapfer verdrängt werden. Nun sieht er ein ausgelassenes Weihnachtsfest mit Kollegen und Freunden, die sich alle miteinander – obwohl wenig Geld vorhanden zu sein schien – wohl fühlen. Auch eine junge Dame, der er sehr zugetan war, ist zu sehen. Das alles wühlt Scrooge schrecklich auf, er möchte zurück ins Bett und alles wieder vergessen.
Bald darauf erscheint der Geist der diesjährigen Weihnachten und nimmt Scrooge mit durch das London dieser Nacht. Sie besuchen auch Scrooges Angestellten Bob Cratchit, ein armes Würstchen, von seinem Arbeitgeber gewohnheitsmäßig mies behandelt und unterbezahlt. Bob besitzt jedoch liebevolle Familienmitglieder, darunter den kleinen, verkrüppelten Tim, Tiny Tim, der sich nur an Krücken fortbewegen kann, aber ein liebenswertes Kerlchen ist, an dem die Familie ganz besonders hängt.
Tiny Tim, eigentlich nur eine Nebenfigur und doch so wichtig, ist im englischsprachigen Raum ebenfalls eine geläufige Figur geworden, vor allem sein berühmter Trinkspruch: ‚God bless us, everyone!‘
Und Bob Cratchit selbst trinkt auf seinen Arbeitgeber, ganz ohne Spott und Hohn, er wünscht dem alten Muffel wirklich alles Gute.
Scrooge fühlt sich angerührt und fragt den Geist, ob Tiny Tim eine Chance hat, gesund zu werden. Da ist der Geist sehr skeptisch; da die Familie nicht genug Geld für eine vernünftige Behandlung aufbringen kann und da er unterernährt ist, wird der kleine Junge nicht mehr lange leben.
Viel Schlaf ist Scrooge in dieser Nacht nicht vergönnt: Schließlich sucht ihn der Geist der kommenden Weihnacht heim. Der zeigt sich extrem schweigsam und düster. Zur kommenden Weihnacht also reden die Menschen über einen widerwärtigen alten Geizkragen, der endlich gestorben ist und dessen Leichnam bestohlen wird. Niemandem tut es im geringsten leid, dass er tot ist. Scrooge kann nicht umhin, zu ahnen, um wen es sich da handelt. Er bittet den Geist, ihm jemand zu zeigen, dem sein Tod nahe geht – verständlicherweise hofft er auf die Anteilnahme der Familie Cratchit. Doch als der Geist ihn zu Bob und seinen Lieben führt, können die sich gerade nicht um Scrooges Verlust kümmern, weil sie tief um ihren kleinen Tim trauern, der auch eben von ihnen gegangen ist. Schließlich darf Ebenezer noch seinen eigenen einsamen Grabstein betrachten.
Er wacht in seinem Bett auf als ein anderer. An dieser Stelle darf man sich über die ungewöhnliche Intelligenz des Protagonisten freuen. Er vertrödelt seine Zeit nicht damit, zu behaupten, das sei alles nur ein Traum gewesen und Geister gäbe es nicht. Er fängt vielmehr auf der Stelle damit an, höchst energisch Weihnachten zu feiern und rundherum Gutes zu tun. Er gibt seinem Reichtum Leben. Er kauft für Familie Cratchit einen Riesentruthahn, er spendet für die Bedürftigen und er lädt sich bei seinem Neffen ein, um mit ihm und seiner Familie das Fest zu feiern.
Darüber hinaus erhöht er das Gehalt von Bob und erreicht damit – wie Charles Dickens am Ende der Erzählung verrät – dass Tiny Tim doch nicht stirbt. Außerdem bekommt der Kleine im alten Scrooge einen zweiten Vater.
Die erste Auflage der Geschichte war innerhalb von fünf Tagen ausverkauft und bis zum Ende des nächsten Jahres gab es dreizehn Neuauflagen. 1849 hielt Dickens seine erste Lesung mit dem Weihnachtslied in Prosa. Das erwies sich als derart erfolgreich, dass er bis zu seinem Tod 1870 immer wieder daraus vorlas. Die Geschichte wurde in etliche Sprachen übersetzt, sie wurde ständig wieder, bis ins 21. Jahrhundert, für Bühne, Oper, Film und Fernsehen bearbeitet und ist bis heute, jederzeit, in jeder Buchhandlung zu kaufen oder jedenfalls zu bestellen. Das bedeutet, sie war niemals vergriffen.
Charles Dickens (gestraft mit einem Jungfrau-Aszendent), hörte sein Leben lang nicht auf, die Sache zu bearbeiten, an der Zeichensetzung und sogar an manchen Formulierungen zu feilen und zu verbessern. Er schrieb noch eine Reihe weiterer Weihnachtsgeschichten, von den Kritikern meistens als ’sentimental‘ beurteilt (eine höfliche Form, zu sagen, sie waren etwas kitschig), vom Publikum begeistert gelesen.
Aber wahrscheinlich sind sich alle einig, dass das Weihnachtslied in Prosa seine beste Weihnachtsgeschichte war.
Glücksfaktor: Charles John Huffam Dickens.