Eigentlich würde niemand erwarten, dass sich hier etwas besonders Sündhaftes oder Frivoles ereignet.
Tut es auch nicht.
Dennoch sah ich in diesem (ohnehin sonderbarem) Jahr einige Male sonderbare Sachen. Genauer gesagt, zweimal. Ganz genau gesagt, nicht Sachen, sondern Menschen.
Eigentlich taten sie nichts Schlimmes. Sie, die Frau, ging eine Straße entlang. Er, der Mann, suchte und fand etwas in seinem Rucksack. Der einzig bemerkenswerte Umstand ergab sich daraus, dass beide unzureichend gekleidet waren.
Ende Januar oder Anfang Februar fuhr ich am frühen Nachittag, es war noch ganz und gar hell draußen, vom Fitnessclub nach Hause, um mit dem Löwen Tee zu trinken. Der Fitnessclub liegt in der Nähe, ich muss eigentlich nur eine kleine Nebenstraße entlang. Auf dem Gehweg kam mir eine Frau entgegen, weder schnell noch langsam. Sie trug einen rosa Overall. Oder vielmehr, je näher ich kam: Sie trug gar nichts. Auch keine Schuhe. (Meine Mutter hätte empört gesagt: „Die wird sich den Tod holen!“)
Es herrschte nicht unbedingt klirrende Kälte, doch besonders warm war es auch nicht.
Die Frau besaß eine gute Figur, ohne irgendwie sensationell auszusehen. Sie war weder besonders geschminkt noch tätowiert. Sie trug weder High Heels noch ein Hundehalsband. Ihr Gesichtsausdruck kam mir gesammelt und nachdenklich vor, sie schaute ruhig vor sich hin. Sie wirkte so normal und unsexy wie eine Schulhof-Plastik.
Ich überprüfte kurz, so gut es ging, ob ich zufällig schlief und träumte, doch das schien nicht der Fall zu sein.
Was tut man??!
Kurzer Gedanke: Anhalten und fragen, ob alles in Ordnung ist, ob Hilfe gebraucht wird. Andererseits sah sie absolut nicht so aus, als ob sie Hilfe benötigte. Wer weiß, was ich gestört hätte.
Ein Foto zu machen kam mir, wie meistens in ungewöhnlichen Situationen, nicht in den Sinn. Wäre ja wohl auch ziemlich geschmacklos gewesen. Ich fuhr ein kleines bisschen langsamer, als ich an ihr vorbei kam. Sie hätte winken, rufen, jedenfalls angstvoll die Augen aufreißen können. Sie ging jedoch einfach weiter, ohne mich zu beachten.
Ich erzählte später einigen – wenigen – Personen davon und erhielt unterschiedliche Vermutungen: Eine Wette? Eine Sklavin? Keine Ahnung.
Nachdem ich mich davon erholt und es schon fast vergessen hatte – passierte es wieder. Jedenfalls so ähnlich.
Am Vormittag bei Sonnenschein, ganz kürzlich, wieder nicht besonders warm. Ich fuhr diesmal zum Bahnhof in den Nachbarort, um den Löwen abzuholen, der aus Hamburg kam. Musste einen kurzen Augenblick bremsen, weil sich vor mir durch Abbieger ein kleiner Stau gebildet hatte. Und sah – erst aus den Augenwinkeln, dann, nachdem ich erstaunt den Kopf drehte, frontal – einen Mann in einem Buswartehäuschen stehen. Er mochte zwischen 40 und 50 sein, trug einen braunen Vollbart und eine Pudelmütze, Pullover und Jacke, beides der Jahreszeit angepasst, ebenso halblange Socken und Stiefel. Falls er ein Penner war, dann ein gutgekleideter. Er wühlte suchend in einem Rucksack, der neben ihm auf der Bank im Wartehäuschen stand. Dabei schaukelte sein Gemächt im Winde, denn in der Mitte trug er absolut nichts.
Gleich darauf fand er im Rucksack so etwas wie einen Feinripp-Herrenschlüpfer und begann, das sah ich noch, bevor ich weiterfahren musste, den im Stehen anzuziehen, behindert durch seine etwas klobigen Stiefel.
Wenn ich es richtig verstanden habe, dann wechselte er in dem (gläsernen) Buswartehäuschen seine Klamotten, zumindest die in der Mitte, als befände er sich in einer Umkleidekabine. Es ist anzunehmen, dass er auch noch die entsprechenden Hosen oder Jeans fand und schier und proper gekleidet dastand, als der Bus kam.
Beide Erlebnisse fanden am hellen Tag statt. Im ersten Fall war außer mir offenbar kein Zuschauer vorhanden. Im zweiten gab es Autofahrer hinter mir und vor mir, die wohl nichts bemerkten – oder?
Ich lebe in einer harmlosen, einigermaßen idyllischen norddeutschen – also bitte! Kann mir irgendjemand erklären, worum es sich hier jeweils gehandelt hat?
Ich würde es als Glücksfaktor empfinden, wenn beim nächsten Mal jemand bei mir ist, der bestätigt, dass er das auch sehen kann …