Inflation in Deutschland


Im Herbst 1923, also vor ungefähr hundert Jahren, war sie fast auf dem Höhepunkt.

Meine Mama, die kleine Ursula, acht Jahre alt, Berliner Großstadtkind, erlebte mit, wie ihre Mutter sich täglich bemühte, Lebensmittel zu kaufen, bevor die noch teurer wurden.

Mein Vater, der kleine Paul, war zwölf Jahre alt und saß in einem Jungeninternat in Thüringen. Da wurden die Rationen im Speisesaal schmaler und die Gesichter der Kinder ebenfalls. Er hat mir erzählt, wie ihn damals ein Onkel besuchte – sein verrückter Onkel Ernst, gerade zum vierten Mal verheiratet – auf seinem Motorrad, mit Lederhelm und dicker Schutzbrille. Sein Freund Curd und dessen Mops saßen mit grünen Gesichtern im Beiwagen (Onkel Ernst fuhr einen flotten Reifen) – und weil’s dem Onkel vorher nicht eingefallen war, dass er Paulchen doch ein bisschen Taschengeld spendieren wollte, fragte er Curd jetzt aus einem Mundwinkel: „Du, kannst du mir eben ein oder zwei Milliarden leihen?“

Für ein oder zwei Milliarden konnte mein Vater sich eine Tüte Lakritzlutscher kaufen. 

Wer damals mit seinem Geld auskommen wollte, der musste gut rechnen können. (Ich wäre geliefert gewesen.) Als die Inflation sich noch mehr beeilte, wurde schließlich kein neues Geld gedruckt, sondern die Geldscheine erhielten rote Stempel mit dem – zu dieser Stunde – aktuellen Wert.

Wie konnte es zu derart albernen Summen auf den Geldscheinen kommen?

Es hatte mit dem Krieg zu tun, dem Ersten Weltkrieg.

Niemand will eigentlich Krieg. Außer vielleicht die Leute, die wirklich einen Gewinn daraus ziehen. Möglichst, indem sie selbst nicht mitkämpfen müssen. Ansonsten wird jeder vernünftige Mensch sagen, Frieden und Harmonie sind netter.

Aber … Seit Eva vom Baum der Erkenntnis genascht hat, wissen wir unglücklicherweise, was Gut und was Böse ist. Der Fluch ist, dass wir uns ständig gezwungen sehen, alles in Gut und Böse einzuteilen. Im Prinzip ja einfach: Wir sind gut, die da drüben sind böse. Da sie böse sind, verdienen sie weder Verständnis noch Mitgefühl.

Die Deutschen waren sich 1914 in keiner Weise bewusst, dass sie den Krieg angezettelt hatten. (Inzwischen, nachdem fast hundert Jahre lang alle dran glaubten, die ‚Hunnen‘ allein – also unser Volk – wärn’s gewesen, ist das sowieso recht umstritten. ) Auf jeden Fall waren sie sicher, im Namen der Gerechtigkeit unterwegs zu sein. Das ist fast noch gefährlicher als an gut und böse zu glauben.

Weil alle Menschen, die sich auf einen Krieg einlassen, davon überzeugt sein müssen, schließlich zu siegen, wurde der Erste Weltkrieg (und so was ist nicht selten) von Deutschland auf Pump geführt. Lieber Schulden machen als Steuern erhöhen, sagte sich die Regierung. Wenn wir erst die Russen und die Franzosen besiegt haben, dann müssen die für alles bezahlen! The Winner Takes It All. Zwischen 1914 und 1918 gab das Land neun Kriegsanleihen aus und erzielte daraus 98 Milliarden Mark. Weit mehr als die Hälfte der Kriegskosten – ungefähr 60 % – konnte dadurch gedeckt werden.

Warum stopfte das Volk seine Ersparnisse, sein mühsam verdientes Geld in solche Anleihen? Erstens galt der Kauf von so einem Papier als patriotisch. (Wir würden heute lieber sagen ’solidarisch‘.) Zweitens benötigte der Staat schließlich dringend das ganze Geld für Kanonen und Patronen. Je mehr Kriegsgerät angeschafft wurde, umso höher stieg die Chance, zu siegen. Dafür konnte man ruhig mal ein Weilchen hungern und frieren. Drittens, wie gesagt: Wenn der Krieg erst gewonnen war, dann brachte diese Anleihe noch größeren Gewinn!

Leider jedoch verlor das Land. Sämtliche Sieger rundherum wollten nun, dass die Verlierer die Kosten für alles, was kaputt gegangen war, aufbrachten. Und das war nicht gerade wenig.

Doch Deutschland besaß überhaupt kein Geld mehr. Es war gewissermaßen nach Innen ebenso verschuldet wie nach Außen. Darüber hinaus war der Kaiser getürmt und das Reich formte in großer Hast eine Republik. Eine Republik, die von vornherein restlos pleite war.

(Um es kurz zu machen – wir haben es schließlich geschafft. Hat ein bisschen gedauert, aber am 3. Oktober 2010 haben wir die letzte Rate unserer Kriegsschulden für den Ersten Weltkrieg, 200 Millionen Euro, überwiesen.)

Die Siegermächte also erhielten nach und nach ihre Knete. Die Käufer der Kriegsanleihen hatte mehr Pech … 

Weil kein Geld vorhanden war, druckte der verzweifelte Staat immer mehr davon. Weil immer mehr Geld gedruckt wurde, war es immer schneller nichts wert. Unternehmer oder Landwirte, die materielle Werte ihr eigen nannten, kamen gut dabei weg. Menschen mit ‚festem Einkommen‘ oder Ersparnissen rannten bald den Millionen und Milliarden hinterher. Sobald sie ihren Lohn, ihr Gehalt, ihr Honorar erhalten hatten, flitzten sie los und stellten sich an eine der Schlangen vor den Lebensmittelgeschäften an.

Im Januar 1923 kostete ein Brot 163 Mark. Bereits im November desselben Jahres musste der Käufer dafür 233 Milliarden Mark hinblättern. 

Ende November 1923 löste die Rentenmark, ab August 1924 die Reichsmark die kaputte Währung ab. Der Schalter wurde praktisch auf Null gestellt. Alles fing von vorne an. Zwar gab es immer noch ganze Massen restlos verarmter Bürger. Zwar vegetierten immer noch ganze Massen ziemlich unerwünschter, oft unappetitlicher Kriegsversehrter umher, meistens bettelnd auf den Straßen.

Trotzdem: Nach und nach konnte dieser oder jener sich wieder was leisten. Und was dann vor lauter Erleichterung losging, waren die überdrehten ‚Goldenen 20er‘.

Glücksfaktor: Inflation. Also falls man gerade hochverschuldet sein sollte …


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