Kenn ich schon!


Ein Herr meiner Bekanntschaft, der eigentlich recht gescheit ist, sagte kürzlich zu mir: „Ich schau mir Filme nie zweimal an!“

Wie schade. Wie dumm. Wenn auch weitverbreitet.

Es gibt nicht wenige Menschen, die so denken und handeln. Kein Film zweimal. Kein Buch mehr als einmal. ‚Kenn ich schon‘. Eine Wegwerfmentalität.

Bei Krimis würde mir das ja zur Not noch einleuchten. 

Aber ein Film, der vielleicht jahrelang vorbereitet und monatelang gedreht wurde, dann geschnitten, was noch mal ein kreativer Akt sondergleichen ist – ein Film, der aus so vielen Einzelheiten, beiläufigen Symbolen, ausgefeilten Dialogen, feinen Pointen besteht, dass ein menschliches Wesen beim ersten Anschauen ganz unmöglich alles sehen und begreifen kann – der wird, weil man nun weiß, wie’s ausgeht, weggetan? Zuschauer, die so denken, haben schnell und lieblos zusammengeschusterte Werke verdient. Bunt und laut. Drüberhinfliegen und weg damit.

Ein Buch, das unendlich viel ausdrücken kann, kommt, nachdem man erfahren hat, ob die Liebenden sich kriegen oder nicht, ob der Held überlebt oder nicht, auf’s Regal und bleibt da? Das bedeutet doch eigentlich, eine Bibliothek ist etwas Absurdes. Ein Buch kann nach dem Konsum verschenkt oder in die Tonne getreten werden. Weg damit.

Ich besitze viele Lieblingsfilme und viele Lieblingsbücher. Was bedeutet, ich kann immer wieder auf’s Neue, ohne jede Langeweile, darin versinken. Und jedes Mal komme ich, unbedingt, mit einer neuen Erkenntnis wieder  hoch. Einige Gedanken, die mir vorher im Film noch nie aufgefallen sind. Oder eine Weisheit, die mir zwar schon mal zu Bewusstsein kam beim Lesen, die ich aber inzwischen wieder vergessen hatte.

Wie ist denn das mit Musik? Sollte man ein schönes Stück auch nur einmal hören, weil man es ja schon kennt? Oder eine schöne Skulptur, ein schönes Bild, nur einmal betrachten? Ein erlesenes Essen, ein mit Liebe gebackener Kuchen: „Nee – kenn ich  schon!“

Wie ist das mit einer Landschaft? Wenn man alle Jahreszeiten durch hat, wird sie langweilig? Was wäre das für eine oberflächliche Einstellung. Aber zeitgemäß. Die Gesellschaft leidet an einer kollektiven Gier auf immer Neues und noch Neueres. Muss nicht gut sein, Hauptsache neu.

Als ich acht war, schenkte mir mein Vater, das hatte ich ja schon mal erzählt, David Copperfield. Ich schmökerte mich begeistert durch die 700 Seiten einer (wie ich inzwischen weiß, mäßigen) deutschen Übersetzung, drehte das Buch um und fing sofort von vorne an.

Inzwischen habe ich David Copperfield sicher an die 30 mal gelesen, auch im englischen Original, und mich noch kein einziges Mal dabei gelangweilt. Dickens ist einer meiner irdischen Götter, immer noch. Wenn ich in seine Sprache eintauche ist es ein wenig, als könnte ich mich mit ihm unterhalten so viele Jahre nach seinem Tod. Natürlich kann ich etliche Passagen auswendig. Das geht mir mit vielen Büchern so (und mit vielen Filmen).

Wie soll man denn stilistische Feinheiten entdecken, wenn man beim ersten Mal nur mit den Augen durch die Seiten galoppiert ist, um die Gesamthandlung aufzunehmen?

Etwas, das der gescheite junge Mann außerdem (in einem anderen Zusammenhang) geäußert hat, lässt mich allerdings hoffen. Er meinte: „Ich fange Bücher immer von hinten an.“

Wie sinnvoll. Das mache ich auch. Wenn man erst weiß, ob die Hauptperson überlebt und wie alles endet, dass ist der Korken raus und der Schaum abgelassen. Dann kann  man beruhigt von vorn anfangen und sich sehr viel mehr auf den Stil konzentrieren. Und es nach einer entsprechenden Zeit ein weiteres Mal genießen.

Und wenn ich das Ende eines Films kenne, wenn ich ihn bereits einmal gesehen hab, dann kann ich beim zweiten, dritten, vierten Anschauen all das entdecken, worauf es dem Drehbuchautor oder dem Regisseur oder dem Kameramann so ankam…

Glücksfaktor: Es gibt nicht nur dumpfe Kulturmuffel, sondern auch immer wieder Menschen mit Sinn für Einzelheiten …

 


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