Wir wollten ihn uns nur mal anschauen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden in diesem November die Anzeige im Wochenblatt gefunden hatte: Berner Sennenhund, 4 Jahre alt, abzugeben …
Wir sahen ihn, vom Auto aus, mit seinem Besitzer auf der Straße und da wir häufig beide gleichzeitig dasselbe sagten, sprachen wir im Chor: „Oh mein Gott, ist der schön!“
Wir schienen ihm ebenfalls zu gefallen, denn er fiel uns sofort um den Hals. Der Besitzer sagte leicht pikiert: „Das wirkt ja sehr positiv. Sonst ist er nicht so …“
Wir erfuhren, dass dieser Hund seit drei Monaten täglich allein in einem Haus saß, wegen einer Scheidung und anderer Probleme: „Meine Frau hat ihn nie leiden können. In meiner neuen Wohnung darf ich keine Tiere haben.“ Der Mann war nur morgends und abends mit dem Hund gegangen, hatte ihm Futter hingestellt – und war wieder abgehauen. Seit einem Vierteljahr!
Wir gewannen beide den Eindruck, als ob er etwas Angst vor seinem Besitzer hätte. Er wirkte ein wenig gedrückt und unsicher. Kein Wunder nach so langer Einzelhaft.
Angeblich hieß er Schröder. Das bezweifelten wir: Es passte nicht zu ihm. In unserer nächsten Umgebung gab es bereits zwei Hunde, die Schröder hießen, offenbar zurzeit ein witziger Hundename durch den gerade vergangenen Kanzler. Wir wollten ihm einen positiven Namen geben und nannten ihn Prosper, im Lateinischen der Glückliche, der Erwünschte. Er vergaß auf der Stelle seinen alten Namen und hörte zuverlässig auf den neuen.
Dass er ein seelisches Wrack war, merkten wir zum ersten Mal, als wir den Wagen in die Garage fuhren, ausstiegen, die hintere Autotür öffneten und ihn hinausriefen. Er wollte nicht. Er blieb im Auto, klammerte sich geradezu an den Sitzen fest. Glücklicherweise hatte unsere Garage einen direkten Eingang zum Haus. Wir ließen die Wagentür und die Tür zum Haus geöffnet, gingen hinein, unterhielten uns ganz normal. Nach einer Stunde (!) traute Prosper sich aus dem Auto und mit aller Vorsicht, an der Wand entlang, ins Haus.
Dies Verhalten blieb ungefähr ein halbes Jahr lang bestehen. Dann vertraute er uns so weit, dass er mit uns ins Haus kam – allerdings niemals voraus, immer hinterher, in der Gewissheit, dass wir bereits drinnen waren und den Mantel ausgezogen hatten.
Wir rekonstruierten, dass sein Besitzer ihn jedes Mal überlistet haben musste, um ihn wieder ins Gefängnis zu bekommen, etwa durch Futter im Haus – um dann schnell zu verschwinden und die Tür hinter sich zuzuknallen. Prosper litt an vielen Ängsten. Seine größte Angst war erneute Einzelhaft.
Wir versprachen ihm in die Pfote, ihn niemals alleine zu lassen. Niemals. Und obwohl viele vernünftige Leute sich über uns lustig machten, meinten, wir ließen uns von einem Hund tyrannisieren und sollten einfach nur ein paar Stunden das Haus verlassen, hielten wir uns völlig korrekt an unser Versprechen. (Ich erinnere mich an eine Bekannte, die mir ganz aufgeregt erklärte, es könne jederzeit passieren, dass ich meinen Mann in die Notaufnahme eines Krankenhauses bringen müsste – und was wäre dann mit diesem verwöhnten Hund?)
Dieser verwöhnte Hund und wir beide kamen sehr gut damit klar. Wo immer es möglich war, begleitete er uns oder einen von uns. Wenn es gar nicht ging, dann holten wir uns Hundesitter – Arne, der in Hamburg wohnte, war prima geeignet, aber auch mein Schwiegervater. Wir machten dem jeweiligen Menschen ein besonders schönes Abendessen, besorgten ihm einen netten Film und baten, falls es wirklich lange dauern sollte, darum, kurz mit Prosper um den Block zu gehen.
Im Auto blieb der Hund gern stundenlang, es bedeutete für ihn Dabeisein.
Eines Nachmittags, als Prosper einige Monate bei uns wohnte, saß ich im Wohnzimmer und las. Mein Mann hatte eben das Haus verlassen, der Hund auf seinem Platz im Erdgeschoss geschlafen. Ich hörte, wie er aufsprang, nachdem die Haustür zugefallen war, in den Hausflur lief, ein Stück ins Wohnzimmer – er konnte mich jedoch nicht sehen, weil ein Sessel im Blickfeld stand. Er hetzte die Treppe hinauf, rannte oben im Flur panisch hin und her, kam wieder die Treppe hinunter gejagt, das alles in Sekundenschnelle. Ich verstand, dass er meinte, wir hätten ihn allein gelassen und ich stand auf, um ihn zu beruhigen – da hatte er sich bereits auf den Wohnzimmerteppich übergeben.
Es war ein Trauma und wir verstanden es durchaus und gaben uns alle Mühe, es zu heilen. Was wir ernteten, war enorme Dankbarkeit und Liebe.
In den ersten Tagen mit Prosper glaubten wir, er sei ein bisschen beschränkt. Er wirkte teilnahmslos, zeigte wenig Reaktion. Wir waren eigentlich nicht enttäuscht, er war trotzdem bezaubernd, vor allem wunderschön. Als er ungefähr eine Woche bei uns war, fuhr ich mit ihm zum Einkaufen. An einer Ampel haltend, bemerkte ich auf der Straße einen anderen Berner Sennenhund und ich sagte über die Schulter nach hinten: „Guck mal, Prosper, da ist noch ein Prosper-Hund!“ Hinter mir blieb es ganz ruhig. Ich drehte mich um und sah, dass unser Hund still dalag, die Schnauze auf den Pfoten. Er fühlte sich überhaupt nicht angesprochen. Ich wiederholte lebhafter: „Guck doch mal, da, Prosper, da draußen! Da ist noch so einer wie du! Da – guck doch mal …“ Und ich zeigte aus dem Fenster.
Prosper erwiderte mit einem unendlich verwunderten Blick – richtete sich langsam auf und schaute tatsächlich aus dem Fenster auf den Hund. Da kam etwas mehr Leben in seine Augen. Dann blickte er wieder mich an, mit einem grenzenlosen Erstaunen und legte sich hin, den Blick immer auf mich gerichtet – bis ich weiterfahren musste.
In diesem Augenblick wurde mir klar, dass noch niemand mit diesem Hund gesprochen hatte – nichts außer ‚Platz!‘, ‚Pfui!‘ und vielleicht ‚Guter Hund!‘.
Für mich ist es eine unverständliche Absurdität, mit einem Tier nicht zu reden. (Und ich habe schon zu hören bekommen „Ich spreche doch auch nicht mit meinem Sofa!“)
Nachdem er bei dieser Gelegenheit vorsichtig einen Fensterladen aufgemacht hatte, öffnete er sich bald immer weiter. Es stellte sich heraus, dass er wirklich intelligent war, vielleicht zu seiner eigenen Verwunderung. Er kam gewissermaßen zu Bewusstsein, er entdeckte sich selbst.
Meiner Erfahrung nach suchen sich Hunde und Katzen gern ihrerseits die Person im Hause aus, zu der sie gehören möchten, normalerweise einen einzigen Menschen. Prosper schaffte das Kunststück, seine Liebe gerecht unter uns aufzuteilen. Wir liebten uns gleichmäßig zu dritt. Sobald ich ihn sah, wo immer wir uns im Haus begegneten, sagte ich etwas wie: „Hallo, Engelchen!“ oder „Na, mein Schöner?“ Das kopierte er, indem er, wann immer einer von uns in seine Nähe kam, ein paarmal mit der Rute auf den Boden klopfte.
Zu allen Festen versammelte sich die Familie bei uns, Ostern, Weihnachten, Pfingsten. Meine Mutter hasste es, zu kochen und Gastgeber zu sein, meine Schwiegermutter hatte das jahrelang geliefert und war froh, es an mich abgeben zu können. Außerdem wohnten wir im größten Haus. Am ersten Weihnachtstag gab es traditionell Puter (Veganer waren noch nicht erfunden). Um die Schüsseln mit den Speisen von der Küche ins Esszimmer zu bringen, besaßen wir einen hübschen Teewagen auf leisen Rädern. Wie immer stellte mein Mann die Schüsseln mit Kartoffeln und Gemüse auf die obere Platte, den knusprigen braunen Braten auf die untere und schob alles ins Wohnzimmer.
Dann klingelte es, wir gingen mit meiner Mutter zur Hausstür und begrüßten Arne und seine damalige Gefährtin. Gleichzeitig kamen meine Schwiegereltern, und wir unterhielten uns alle im Flur. Arne meinte: „Das duftet ja herrlich nach dem Braten!“ – in diesem Moment fiel uns ein: Wir haben ja inzwischen einen Hund! Und der Hund ist gerade mit dem herrlich duftenden Braten, in Schnauzenhöhe, allein!
Wir stürzten ins Wohnzimmer und erblickten den schönen Hund, wie er ruhig und stolz auf dem Teppich lag, dicht am Teewagen, und den Puter bewachte. Es war ganz unter seiner Würde, zu betteln – klauen tat er schon gar nicht.
Man musste es dem Vorbesitzer lassen: Prosper war ein gut erzogener Hund. Eins brachte ich ihm meinerseits bei (daran hatten sich alle meine Hunde halten müssen): Er durfte nicht in die Küche. Ich legte keinen Wert auf Pelzhaare in der Sauce. Seine Krallen hatten am Kachelrand zu stoppen.
Er hielt sich derart daran, dass er es sogar zu Besuch bei anderen Leuten und herzlich in die Küche eingeladen mit beiden Pfoten vor den Kacheln bremste. Nein, danke, ab hier ist Tabu.
Und doch – selbst der edelste Charakter hat seine Schwächen. Prosper liebte, wieso auch immer, hartes, altes Brot oder Brötchen. Wenn einer von uns verreiste, brachte er dem Hund etwas Derartiges als Geschenk mit. Das war ihm sehr viel lieber als Fleisch.
Bald entwickelte sich eine schöne Sitte: Wenn mein Mann abends den letzten kurzen Gang um den Block mit dem Hund machte, legte ich ein altes Brötchen als Betthupferl in den Napf. Prosper stürmte dann bereits wedelnd, in Vorfreude, durch die Tür und zum Napf, um das harte Gebäck zu knacken und säuberlich alle Krümel aufzulecken.
In dieser Zeit pflegte ich häufig Brot zu backen. An einem schönen Sommertag hatte ich ein besonders gelungenes kleines Dinkelbrot hergestellt und zum Auskühlen auf dem Küchentisch plaziert, hinten an der Wand.
Mein Mann kam nach Hause und rief: „Das riecht ja wunderbar! Du hast gebacken! Aber wo ist denn das Brot?“
Denn auf dem Küchentisch befand sich – nichts. Nur das Sieb, auf dem das Brot geruht hatte. Sollte etwa Prosper – ? Aber er ging doch nie in die Küche? Er hätte, um das Brot am Tischende zu erreichen, ja erst auf einen Stuhl springen müssen? Es gab kein Anzeichen dafür, keinen einzigen Krümel, aber auch keine aufgeschleckten Stellen, nichts. Das Brot war wie weggezaubert.
Wir wollten unseren guten Hund eigentlich nicht verdächtigen, riefen ihn jedoch schließlich trotzdem, um uns zu erkundigen, ob er eine Ahnung hätte – ?
Prosper war ein sauschlechter Lügner. Er versuchte zwar, vorne ein unbefangenes Gesicht zu machen, klemmte allerdings gleichzeitig hinten die Rute derart unter seinen Bauch, dass die Schwanzspitze fast bei seinem Kinn wieder rauskam.
Letztendlich konnten wir ihm nichts beweisen. Wenn ich von da ab Brot zum Auskühlen hinlegte, schloss ich die Küchentür. Aber ab und zu erzählen wir, in Prospers Gegenwart, anderen Menschen von dieser amüsanten Geschichte – und jedesmal schämte er sich deutlich erneut …
Ich hab mir vorgenommen, nicht über den traurigen Abschied von meinen Hunden zu schreiben. Auf keinen Fall – und ganz und gar nicht in diesem Fall. Aber soviel: Prosper blieb nur ziemlich genau vier Jahre bei uns. Er wurde, wie viele große Rassehunde, sehr schwer krank. Weil er rücksichtsvoll war und die Liebe selbst, belästigte er uns mindestens ein Jahr lang nicht damit, dass es ihm nicht gut ging. Ja, er fiepte manchmal nachts vor unserer Schlafzimmertür, weil er dringend raus musste, und natürlich gingen wir dann mit ihm. Und mir fiel auf, dass er bei unserer morgendlichen großen Tour (mit Lydia) immer mehr zurückblieb, statt wie früher eifrig voranzulaufen. Als es wirklich ganz schlimm wurde, dauerte das kaum zwei Wochen.
Und kurz, bevor er gehen musste, obwohl er sich entsetzlich elend gefühlt haben muss, klopfte er doch jedesmal, wenn wir in seine Nähe kamen, ein paarmal liebevoll mit der Rute auf den Teppich …
Glücksfaktor: Dass man sich gehabt hat, bevor man sich verlassen muss.