Nachruf auf einen kleinen Kater


Dies ist eine Zeit des Wechsels, der Veränderung. Schon im letzten Jahr sind viele zurückgeblieben, die vielleicht keine Lust mehr hatten, bei den kommenden Unruhen dabei zu sein. Womöglich werden sie auch an anderer Stelle benötigt. Nichts verschwindet wirklich, alles wandelt sich nur.

Ein Freund ist gegangen.

James Kater, für vertraute Personen Jimmy, schlank und zierlich, mit auffallend kleinen Pfoten und auffallend großen Augen.

Ein Menschenversteher – was andere Katzen missbilligen mögen – der eine eigene Sprache entwickelt hatte, der menschlichen Sprache sehr angepasst, weil es ihm ein Bedürfnis war, sich mitzuteilen. Jimmy war ungewöhnlich gesprächig. Menschen, die lesen können, ist es möglich, einen Schriftblock zu entschlüsseln, auf dem die Buchstaben vertauscht oder teilweise durch Zahlen ersetzt worden sind. So ähnlich war das mit Jimmys Äußerungen: Am Tonfall konnte man recht genau erkennen, was er sagen wollte, von Smalltalk („Geiles Wetter heute, was?“) bis Tiefsinn („Das Leben gleicht manchmal einer gefangenen Maus in der Badewanne“) war das Meiste gut zu verstehen.

In den letzten beinah fünf Jahren durften wir im selben Haus mit ihm wohnen. Er teilte seine Wohnung mit Lydia und gab ihr sehr taktvoll das Gefühl, sich mit ihm auf Augenhöhe zu befinden.

Jimmy war ein erwachsener Kater. Er besaß (und benötigte) weder einen Kratzbaum noch irgendwelches Spielzeug. Wenn er raus musste, verschwand er durch die Katzentür in den Garten – und zwar nie, ohne sich kurz akustisch zu verabschieden: („Ich geh mal eben raus, okay?“) – oder zurückzumelden: („Hallöchen, bin wieder da!“).

Ein astrologischer Zwilling, der sich wohl bewußt war über den Wert und die Notwendigkeit von Kommunikation.

Sein Revier war der Garten und ein Teil des großen benachbarten Grundstücks, Wildwuchs, Unkraut und Mäuse. Er richtete in der Wohnung keinen Unsinn an, indem er etwas herunterwarf – vielmehr verstand er sich auf die Kunst, mit seinen winzigen, edlen Pfoten umsichtig und elegant auch mal auf einem gedeckten Tisch umherzustolzieren, ohne in einen Teller zu treten oder zu naschen. 

Er führte sein Leben und überließ Lydia ihr eigenes. Dabei erlaubten sich beide immer Zeit für Austausch, Gespräche und Schmusen. (Er fand es ganz ulkig, wenn sie ihn auf ihrer Schulter Rad schlagen ließ, immer mal wieder überkopf, hihi.) Eine gelungene und erfüllte Zweierbeziehung.

Wenn Lydia verreiste, ging ich am Abend runter, um den Kater zu füttern. Das geschah nur einmal am Tag und er teilte sich sein Futter selbst ein. Häufig begrüßte er mich erfreut und plapperte eine Weile dies und das, bevor er sich den Näpfen widmete. Falls seine Partnerin länger unterwegs war, kam er auch tagsüber mal rüber auf unsere Terrasse, um ein Schwätzchen zu halten oder sich auf einer der Gartenliegen zu parken: nie, ohne kurz zu fragen („Prrrau?“) ob das erlaubt sei.

Im Übrigen war er autark. Er musste nicht bespaßt werden, es war kein Katzenklo zu putzen. Eigentlich bat Lydia mich vorher jeweils nur, ich sollte bitte mal nach ihm sehen, solange sie weg wäre. Er sei ja ganz selbstständig, aber kurz mal gucken könnte nicht schaden.

Jimmy war das dritte Mitglied in unserem kleinen Wochenclub des Serienguckens, weshalb ich ihm gern Katzenchips mit Käsegeschmack mitbrachte. Er ertrug mit vorbildlicher Nachsicht unser ewiges Gestoppe jeder Serienepisode, um uns zwischendurch auszutauschen. 

In der vergangenen Woche, als es ihm schon sehr schlecht ging, saß er ungewöhnlicherweise dauernd dicht neben mir und schaute mich fragend und drängend an. Ich verstand nicht genau, was er wollte. (Menschen sind ja manchmal ziemlich unterbelichtet.)

Später hab ich begriffen, dass er meinte, ich sollte bitte mal nach Lydia sehen, wenn er weg wäre. Sie sei ja ganz selbstständig, aber kurz mal gucken könnte nicht schaden.

Das will ich gerne tun, Jimmy.

Glücksfaktor: Es war mir eine Ehre, seine Freundin gewesen zu sein.

 

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