Niemand nimmt dir was weg!


Oder doch?

Geschwisterkinder, sagt man, haben gelernt zu teilen. Einzelkinder können das nicht.

Ich glaube zwar, das hängt sehr von der jeweiligen Person ab. Dennoch …

Wenn du einen Teller vor dir hast, auf dem viele verschiedene Sachen darauf warten, verspeist zu werden – was isst du zuerst? Das, was du am wenigsten magst, damit das Schönste am Ende übrig bleibt, als krönender Abschluss?

Oder nimmst du vielmehr das Beste gleich zu Anfang, denn dann kann es dir keiner mehr wegnehmen?

Wir hatten einen großen, grimmigen alten Rottweiler, Berry, einen Haudegen und Zyniker erster Ordnung, intelligent, mit sardonischem Humor. Er konnte bei Bedarf linksseitig grinsen. Er hatte es faustdick hinter den Schlappohren.

Weil unsere Katze Lenchen sich herumtrieb und schwanger nach Hause kam, wurde ausgerechnet dieser Hund im hohen Alter noch einmal Onkel. Plötzlich umkreisten ihn fünf winzige Kätzchen, spielten mit seinem Stummelschwanz oder bissen ihn in die Ohren. 

Berry stellte sich der neuen Aufgabe charaktervoll. Nicht nur ließ er sich ärgern, ohne sich zu ärgern. Er achtete auch darauf, dass den kleinen Rackern nichts passierte. Er schob sie beispielsweise mit der Pfote vom gefährlichen Staubsauger weg und er trug sie immer wieder im Nackenfell zum Karton, in dem die säugende Frau Mutter residierte.

Und als der kleine Henry, Lenchens dreistestes Kind, mal guckte, ob Onkel Berry eigentlich auch

eine Milchquelle hätte, hielt er augenrollend, mit angehaltenem Atem, still. So blieb dann auch alles  dran.

Aber dann geschah Folgendes: Einer von uns hatte ein großes Stück Lachs geschenkt bekommen, größer, als dass wir es gemeinsam verbrauchen konnten. Statt den Rest einzufrieren, beschlossen wir, ihn dem kleinen Henry zu schenken, denn Lenchen und ihre vier anderen Kinder befanden sich im Garten.

Wir legten den gekochten Fisch, in schnäuzchengerechte Stücke geschnitten und in etwas Sauce, auf einen Glasteller und präsentierten das dem Kater. Henry begann sofort, den Lachs in einer unziemlichen, gierigen Hast hinunterzuschlingen. Wir befürchteten, er könnte sich verschlucken – es sah geradezu lebensgefährlich aus.

Also redeten wir auf ihn ein: „Iss doch langsam – lass dir Zeit! Es gehört dir allein, keiner nimmt es dir weg!“

In diesem Moment fiel ein dunkler Schatten auf den Teller. Onkel Berrys große Schnauze stülpte sich über den Lachs samt Sauce. Es machte einmal ‚Schlapps!‘, dann waren alle Fischhäppchen verschwunden. Der Rottweiler spazierte etwas steifbeinig zu seinem Korb, ließ sich fallen und rülpste ausdrucksvoll.

Und wir anderen (übrigens alle Einzelkinder) schauten abwechselnd den enttäuschten kleinen Henry und uns gegenseitig an …

Glücksfaktor: Satte Familienangehörige  …


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