Plötzlich König


wurde Louis Bonaparte am 5. Juni 1806. Von Holland nämlich. Das bestimmte sein großer Bruder, der neun Jahre ältere Napoleon. Louis war schon immer sein Lieblingsbruder gewesen, bereits, als er noch Luigi hieß und er selbst, der spätere Kaiser der Franzosen, noch Napoleone.

Der Kaiser hatte Louis vier Jahre vorher mit Hortense de Beauharnais verheiratet, der Tochter aus erster Ehe seiner Frau Joséphine.

Leider keine sehr glückliche Paarung. Hortense war selbstbewusst, frech und lebenslustig, Louis ein durch und durch vernünftiger, unermüdlicher Pflichtmensch und unglücklicherweise überaus eifersüchtig. Er wurde den dringenden (und vermutlich völlig unbegründeten) Verdacht nicht los, dass mindestens zwei der drei gemeinsamen Söhne nicht von ihm stammten. Das ging Hortense ziemlich auf die Nerven.

Was sie ebenfalls nicht verknusen konnte, war Holland, ihr Königreich. Sie fand es langweilig und provinziell und entzog sich dem Land (und ihrem unbequemen Gatten) nach einigen Jahren.

Louis jedoch liebte Holland – obwohl es seiner Gesundheit nicht gut tat. Er war sowieso nicht der Vitalste und neigte auch noch zu Depressionen – was man damals ‚Schwermut‘ nannte. Das feuchtkalte Nordseeklima förderte seine Arthritis derart, dass er sich die Schreibfeder am Zeigefinger festbinden musste. Doch er arbeitete wie ein Tier, gönnte sich kaum Schlaf und keine Freizeit.

Sein mächtiger Bruder hatte ihm, zugleich mit dem Land, einen Befehl gegeben: ‚Mein Prinz, hören Sie nie auf, Franzose zu sein!‘

Doch der neue König Lodewijk erklärte dem Volk in seiner ersten Ansprache: „Seien Sie davon überzeugt, dass ich von dem Augenblick an, in dem ich den Boden des Königreichs betreten habe, Holländer geworden bin!“ Außerdem verbot er französischen Soldaten, an der Willkommens-Parade teilzunehmen und erwähnte mit keinem Piep seinen großen Bruder.

Stattdessen lernte er sehr schnell die niederländische Sprache – obwohl es noch jahrelang, wenn er sagen wollte: „Ik ben uw koning“ ( Ich bin Euer König) klang wie „Ik ben uw konijn“ ( Ich bin Euer Kaninchen).

Soweit es seine Gesundheit zuließ, bereiste er die neue Heimat, um Gegebenheiten und Volk besser kennenzulernen. Ganz unüblich damals: Bei Unglücksfällen erschien König Lodewijk persönlich vor Ort. Er bestellte Würdenträger nicht zum Hof, er suchte sie auf. Seine Hofhaltung zeichnete sich eher durch Sparsamkeit als durch Prunk aus, und statt die Holländer mit neuen Steuern zu belasten, um den Staatshaushalt zu sanieren, ließ er sich eine Menge einfallen, etwa die Abwrackung eines großen Teils der Kriegsflotte oder die Halbierung der Truppenstärke.

Sein Kabinett bestand nahezu ausschließlich aus Niederländern, keineswegs aus Franzosen, wie Napoleon es gern gesehen hätte. Louis gewährte Religionsfreiheit, ließ Hinrichtungen nicht mehr als öffentliches Schauspiel stattfinden (und er begnadigte, wo er konnte, denn er hielt gar nichts von der Todesstrafe), schaffte Zwangsarbeit ab sowie Pranger und Folter. Er schuf erstmalig im Strafrecht eine Unterscheidung zwischen erwachsenen und jugendlichen Straftätern. Er führte die Schulpflicht ein und eine ganze Reihe von Sozialeinrichtungen, beispielsweise königliche Apotheken, in denen Bedürftige kostenlos Medikamente erhielten. Er gründete Waisenhäuser und machte sein Holland überhaupt zum führenden Land Europas im Bezug auf Sozialwesen.

Die Kontinentalsperre, die Bruder Napoleon gezogen hatte, war für die Holländische Wirtschaft katastrophal. Obwohl Louis die Häfen Hollands, entgegen dem Befehl des Kaisers, weitgehend offen ließ, kamen von draußen kaum Waren hinein.

Deshalb machte der König die damals noch unterentwickelten Provinzen im Osten des Landes flott. Er ließ Land kultivieren und Siedlungen steuerlich begünstigen. Er ersetzte Seide und Kohle durch eigenproduzierte Wolle und Torf. Dadurch wurde Utrecht zu einem neuen Handelszentrum.

Doch je mehr er für sein Land tat, desto mehr ärgerte es den Kaiser der Franzosen, der wütend erklärte: Holland ist nichts anderes als ein Anschwemmungsgebiet französischer Flüsse!

Bereits im Juli 1810, vier Jahre nach Beginn seines Königtums, dankte König Lodewijk schweren Herzens ab. Die Holländer trauerten ihm aufrichtig hinterher. Drei Jahre später traf er seinen Bruder zum letzten Mal und riet ihm, Frieden zu schließen, weil andernfalls seine Regierung kein Vierteljahr mehr halten würde. Er bot auch an, zwischen Napoleon und den Herrschern von Russland und Österreich zu vermitteln (denn zu beiden hatte Louis gute Beziehungen), doch der Kaiser lehnte das ab. Er mochte nicht von seinem kleinen Bruder protegiert werden.

Nachdem es gekommen war, wie Louis prophezeit hatte und die Bonepartes nicht mehr Europa beherrschten, widmete er sich der Schriftstellerei: Er verfasste Romane und Theaterstücke, schrieb eine Abhandlung über die Geschichte des britischen Parlaments und veröffentlichte die Tagebücher seiner Königsjahre.

1840, sechs Jahre vor seinem Tod, sah er Holland noch einmal, und er, der sehr zur Bescheidenheit neigte, war überrascht und gerührt über den ungeheuer herzlichen Empfang.

Louis‘ älteste Sohn starb bereits als Vierjähriger. Der zweite erlag den Masern im Alter von 27 Jahren. Der übriggebliebene, Charles Louis Napoléon, war von 1852 bis 1870 als Napoleon III. Kaiser der Franzosen.

Glücksfaktor: Ein Mensch, der seinen Aufgaben gewachsen ist …

 


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