Es wird Zeit, über mein Rad zu sprechen. Das hat es verdient.
Andererseits kann ich nicht über mein Rad sprechen, ohne meinen Rücken zu erwähnen. Das ist ein schmerzliches Thema, aber es nützt ja nichts.
Vor ungefähr sechzehn Jahren wachte ich eines Morgens auf und dachte – ups, ich hab mich irgendwie verzerrt. Rücken ganz unten. Es tat etwas weh. Ich dachte, es würde schon besser werden, wenn ich mich ruhig verhielt. Dann dachte ich, es könnte weniger wehtun, wenn ich mich vorsichtig bewegte. Dann fiel mir ein, eine Wärmflasche dürfte den Schmerz verringern.
Was auch immer ich tat oder bleiben ließ: Es wurde schlimmer. Der Schmerz steigerte sich ungefähr eine Woche lang, beharrlich, unerbittlich.
Nach acht Tagen konnte ich weder stehen noch gehen noch sitzen oder liegen. Die einzige Haltung, die mir blieb, war die auf allen Vieren, Rücken leicht durchhängend. Allein in dieser Positur zu Essen wird schwierig, wenn man es nicht gewöhnt ist. Glücklicherweise war mir durch den Schmerz fast ständig übel, was zu Appetitlosigkeit führte.
Die Nächte verbrachte ich allmählich in der Verfassung eines Menschen, der tagsüber gefoltert und dann vorübergehend wieder in den Kerker geworfen wird, um darüber nachzudenken, ob er nicht doch lieber alles zugeben möchte. Jede Bewegung tat weh. Nicht bewegen tat auch weh. Atmen tat weh.
Ich traue Ärzten nicht und vermeide es nach Möglichkeit, ihnen zu begegnen. Doch nun sagte ich, was auch Emily Brontë eine Stunde vor ihrem Tod geäußert hat: „Wenn ihr es durchaus wollt, bin ich bereit, einen Arzt zu sehen“ …
Ich wurde vorsichtig ins Auto gesetzt, auf allen Vieren auf dem Rücksitz, und äußerst behutsam zur Orthopädischen Praxis gefahren, aus dem Wagen gehoben und ins Haus geschleppt. Ich erinnere mich, dass ich mir dabei die Zunge zerbiss und die Hände zerkratzte, um nicht zu schreien. (So sind wir Wikinger.)
Die Sprechstundenhilfe meinte, wir sollten uns kurz ins Wartezimmer setzen.
„Sie kann nicht sitzen.“
„Dann können wir sie in den Ruheraum legen?“
„Sie kann auch nicht liegen …“
Ich sollte irgendein Dokument unterschreiben. Das übernahm mein tapferer Gefährte, und weil er dazu freie Hände haben musste, zog er eine Schublade mit Karteikarten aus einem eisernen Schrank neben der Sprechstundenhilfe und stülpte mich bäuchlings darüber. Als der Arzt kam, konnte ich nur seine Schuhe sehen.
„Wir müssen etwas gegen die Schmerzen tun!“, sagte der Arzt. Dagegen hatte ich keine Einwände.
Ich bekam eine Periduralanästhesie, also eine Betäubungsspritze ins Rückenmark. Die hatte ich damals, als ich mein Söhnchen zur Welt brachte, verweigert, um dem Kind nicht zu schaden. Inzwischen war mir nicht nach Verweigern zumute. Ich war geneigt, allem zuzustimmen, was der Katastrophe in meinem Rücken ein Ende machte. Hätte der Arzt vorgeschlagen, mich schnell und effektiv totzuschlagen, hätte ich auch nicht protestiert.
So eine Spritze ins Rückenmark soll ziemlich weh tun. Ich behaupte, dass ich sie nicht spürte. Der Schmerz in meinem Rücken überdröhnte alles andere.
Eine knappe Viertelstunde später besaß ich keinen Unterleib mehr! Er schien verschwunden, nicht mehr spürbar, obwohl noch sichtbar. Die Erleichterung über so etwas lässt sich schwer in Worte fassen. Manchmal, ganz manchmal, ist die Schulmedizin samt Pharmazeutik (einer unserer wichtigsten Industriezweige) doch ganz gut zu gebrauchen.
Man untersuchte mich gründlich, ich wurde geröngt und abgeklopft und blutuntersucht und so weiter – ich lag mit einem stillen Lächeln da und ließ machen. Tatsächlich wirkt kaum etwas so zufriedenstellend wie Schmerzfreiheit nach großer Qual.
Der Arzt erklärte mir, dass nur diese – vorübergehende – Schmerzfreiheit es meiner verrutschten Bandscheibe erlaubte, sich vorsichtig wieder an ihren rechtmäßigen Platz zu begeben. Solange alles derart weh tat, hätte mein Körper sich unwillkürlich nur immer mehr verspannt und die Bandscheibe samt geplagter Nerven immer fester eingeklemmt.
Der Schmerz kam am Abend wieder, jedoch nicht so stark wie vorher. Ich befand mich, ungefähr zwei Monate lang, auf dem langsamen Weg zur Besserung. Eines Tages konnte ich wieder sitzen, laufen und liegen. Stehen am wenigsten: Warteschlangen wurden zum Problem.
Ich brauchte alles in allem zwei Jahre, bis ich meinen Rücken wieder problemlos hinter mir hatte.Trotzdem bin ich sehr froh, dass mir niemand zu einer Operation geraten hat.
Und was hat das jetzt mit meinem Fahrrad zu tun?
Der Arzt empfahl mir damals, mich viel und vielfältig zu bewegen. Je mehr ich meine Muskeln stärkte, umso besser könnten sie Knochengerüst und Gelenke entlasten. Einer seiner Vorschläge war, Rad zu fahren.
Das hatte ich immer gern gemacht, (sehr zur Bewunderung meiner Eltern, die diese Kunst beide nicht beherrschten), und ich beschloss nahezu sofort, wieder viel radzufahren. Ich weiß noch, wie ich auf der einen Seite auf mein schönes, teures Rad stieg – und auf der anderen Serite gleich wieder runter. Irgendetwas war absolut Aua. Meine Bandscheibe, seit längerer Zeit zurückhaltend, protestierte.
Der Sattel wurde höher gestellt und er wurde niedriger geschraubt – es blieb dabei. NICHT auf diesem Rad, sagte mein Rücken. Ich probierte es auf anderen Rädern, die Freunde und Bekannte zur Verfügung stellten – mit niederschmetterndem Ergebnis. Mein Rücken war in überhaupt keiner Fahrradstellung zu gebrauchen. Mit einer Ausnahme. Ein sehr kleines, dunkelblaues Rad aus den 70er-Jahren, ursprünglich zum Zusammenklappen und im Kofferraum zu transportieren gedacht, (inzwischen etwas zu rostig für solche Späße), schien meinem Rücken nichts zu tun.
Es gehörte meiner Freundin Brigitte, die es mir auslieh. Ich machte einen längeren Ausflug auf diesem Rad und fühlte mich wohl. Ich saß darauf in einer Haltung wie ein Kleinkind auf seinem Dreirad, also mit geradegestrecktem Rücken. Der Eindruck verstärkte sich durch die deutlich kleineren Räder. Es gab keine Art von Gangschaltung, dieses Rad war auf treuherziges Strampeln konzipiert, vielleicht gerade dadurch zweckmäßig für den erwünschten Muskelaufbau. Ich gab es Brigitte zurück und begann, darüber nachzudenken, mir ein solches Klapprad anzuschaffen.
Problem: Ich fand nirgends etwas derartiges. Das Modell war veraltet. Es gab Klappräder – ich probierte einige – aber keins davon machte meinen Rücken entsprechend glücklich.
Ein paar Wochen später fuhr Brigitte im Auto auf unserem Hof, mit leicht geöffnetem Kofferraum, aus dem sie das Dunkelblaue angelte. Sie drückte es mir in die Hände, funkelte mich drohend aus ihren schwarzen Mandelaugen an und knurrte: „Wehe, du sagst jetzt Danke!“ – damit fuhr sie auch schon wieder weg.
Das Bemerkenstwerte an Rad ist, dass es keinen weiteren Namen hat. Eigentlich hat alles bei mir einen Eigennamen, sogar mein Staubsauger. Rad heißt also nur Rad, jedoch mit liebe- und respektvollem Unterton. Es dürfte inzwischen mehr als 50 Jahre alt sein. Kürzlich hat der Löwe ihm neue Reifen gekauft und einen anmontiert, ihm die Ketten geölt und ein bisschen am Rost herumgeputzt.
Rad besitzt einen eigenen Einkaufskorb und eine überaus melodische Klingel. Schnell kann ich darauf höchstens fahren, wenn es etwas bergab geht – selten in Schleswig-Holstein. Aber ich habe es ja auch nicht eilig.
Noch immer tut es meinem Rücken einfach wohl. Ich würde es auf keinen Fall jemals eintauschen gegen irgendein sportliches Etwas – oder womöglich sogar gegen ein Elektrorad …
Glücksfaktor: Dass etwas völlig Perfektes nicht teuer sein muss. Manchmal bekommt man es sogar geschenkt!