Rupert und ich


Kürzlich sah ich ein Bild von ihm, da fiel mir alles wieder ein.

Als ich sieben Jahre alt war, nahm meine Mutter mich mit zu einer Bekannten, Frau Schaumberg, die ihr ein Kleid ändern wollte. Frau Schaumberg war Lehrerin für Deutsch, Englisch und Handarbeit gewesen, inzwischen in ‚Penschjoon‘. Sie legte auch für Freundinnen die Karten oder machte Horoskope. Und sie nähte immer noch gern.

Ich gab die Hand und machte einen Knicks, so was taten kleine Mädchen damals. Dann sah ich mich bereits gezwungen, zu lügen, weil Frau Schaumberg wissen wollte, ob mir denn die Schule Spaß mache.

Bevor die beiden Damen im Nebenzimmer verschwanden, um abzustecken, zu heften und zu nähen, sagte die ehemalige Lehrerin leutselig, ich dürfe inzwischen ruhig in ihre Bücher schauen, ich könne doch schon perfekt lesen, hätte sie gehört.

Ich guckte beklommen an den deckenhohen Bücherregalen entlang und Frau Schaumberg lachte, zupfte ein großes, in grünes Leder gebundenes  Buch heraus, schlug es auf und meinte: „Guck mal, das ist ein Buch über englische Geschichte. Da sind ganz schöne Bilder drin …“

Zufällig fand sich an der aufgeschlagenen Stelle ein Männerportrait. Ich starrte es an und vergaß, Luft zu holen. „Zeig mal – ja, das hier ist Rupert von der Pfalz, der Sohn des Winterkönigs. Der war halb Deutscher und halb Engländer, ein Neffe des englischen Königs“, erklärte Frau Schaumberg. „Ein hervorragender Stratege, Generalissimus – aber auch ein kluger Mann, ein Gelehrter und Erfinder, Pirat war er ebenfalls eine Weile. Er zog in den Krieg, hinter seinem Pferd ein riesiger weißer Hund, der hieß ‚Boy‘. Sein bester Freund war sein Bruder Moritz, zwei Jahre jünger und immer an seiner Seite, auch in der Schlacht. Aber Moritz von der Pfalz ertrank schon mit dreißig Jahren bei einem Schiffsunglück, und der große Hund wurde ungefähr gleichzeitig in einer Schlacht erschossen. – Rupert gefällt dir, was?“

Ich nickte.

„Er hat nie geheiratet“, fuhr Frau Schaumberg fort. „Aber er hatte lange Jahre eine wunderschöne Freundin und einen Sohn mit ihr – und später eine andere, eine Schauspielerin, mit der hatte er eine Tochter.“

Ich starrte das Bild an.

Meine Mutter sagte: „Wollen wir mein Kleid mal abstecken? Also vor allem an den Hüften sitzt es nicht …“

Sie gingen ins Nebenzimmer, ich hörte Sprechen und Gelächter, das Klappern einer Schere und das Rattern einer Nähmaschine, während ich das Gesicht von Rupert studierte.

Ich sah, dass sein Haar etwas heller war als seine Augen und dass seine Oberlippe einen ausgeprägten Amorbogen besaß. Aber ich sah noch viel mehr. Dass er sowohl selbstbewusst  als auch schüchtern war, ein wenig traurig, unabhängig und misstrauisch, empfindlich, empfindsam und liebebedürftig. 

Nach einer geraumen Weile kam meine Mutter mit dem geänderten Kleid in einer Tüte zu mir und sagte, wir wollten nach Hause gehen. Dann bemerkten sie und Frau Schaumberg, dass ich die ganze Zeit nur das eine Bild in dem grünen Buch betrachtet hatte, und beide mussten lachen.

„Das ist ein Familienfluch“, erklärte meine Mutter. „Ich kann mich ja auch immer nur in gutaussehende Männer verlieben. Das hat man dann davon,“

Frau Schaumberg erwiderte:“Ein unansehnliches Gesicht ist keine Garantie für einen feinen Charakter.“

Meine Mutter beharrte: „Der da ist viel zu schön. Der war bestimmt nicht nett.“

„Nett? Nein. Soviel ich weiß, war er arrogant, kompliziert, undiplomatisch und ganz unfähig zur Zusammenarbeit: Er konnte nur befehlen und wollte sich nie beugen“, sagte Frau Schaumberg. „Ein Feuerzeichen, Schütze. Aber man könnte natürlich auch sagen, er war stolz, aufrichtig und der geborene Anführer. Übrigens glaube ich“, fuhr sie fort und  schaute mich nachdenklich an, „Ihre Tochter sieht nicht nur die äußere Schönheit. Sie blickt dahinter…“

 

Glücksfaktor: Wenn  man unvermutet erkannt wird.

 

 

 

 

 

 

 


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