Gestern Abend verlangte es mich dringend nach frischer Luft und ich stürzte mich in die Dunkelheit. Sehr dunkel war sie ja nicht durch den energischen, stundenlangen Schneefall. Der hatte nun aufgehört, und auf der Stelle begann es, zu tauen.
Es tropfte aus den Bäumen und von Fensterbrettern, die Straße war nicht glatt, sondern glitschig. Ein athletischer Herr, der mit seinem Dackel unterwegs war und mir geschmeidig ausweichen wollte, rutschte aus und fiel mit Gepolter hin, was sowohl mich als auch den Dackel sehr erschreckte …
Der Schnee, solange er noch fiel, muss wunderbar klebrig gewesen sein, denn ich begegnete einem Heer von Schneemännern, einer Invasion. In der kleinen Einkaufspassage stand einer, der die Kürze seines Daseins beweinte. Ein Stück weiter lag ein anderer am Boden. Einem Kopflosen begegnete ich ebenfalls.
Der Schneemann vor dem großen Fahrradgeschäft besaß noch seinen Kopf, sah jedoch elend und verhärmt aus und hustete. Seine Arme hatten sich fast vollständig von den unterstützenden Besenstielen darunter gelöst wie Fleisch vom Knochen. Immerhin trug er noch Handschuhe.
„Wird zu warm jetzt, oder?“ fragte ich mitfühlend.
Er brummelte: „Wenn ich nicke, dann war’s das. Ja, diesmal kommt der Tau schnell nach dem Fall. Es gab schon welche unser uns, die lebten ein oder zwei Wochen. Das ist viel. Wir sind vergänglich wie die Blüten im Sommer. Und genauso schön!“
Ich wollte nicht widersprechen und wünschte noch einen angenehmen Abend. Er hustete. „Falls Sie morgen Abend nochmal vorbei kommen, bin ich ein graues Hügelchen mit Handschuhen. Niemand wird je wieder an mich denken.“
„Nicht unbedingt!“, widersprach ich. „Ich habe Sie im Bild festgehalten und ich werde über Sie schreiben. Das hält Sie fest in der Zeit …“
Da lächelte er beinah.
Dem letzten schmelzenden Schneemann begegnete ich am Busbahnhof. Viele von ihnen sind ja genderneutral, aber dieser war deutlich ein Männchen. Seine Stiefel waren ihm aus dem Körper getaut und ein Stück nach vorn gerutscht. Er trug eine Art Uniformmütze und sein Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet.
Es ist verboten, den Busbahnhof zu betreten, doch für diesmal ging ich um den Schlagbaum herum und auf den Schneemann zu. Das beunruhigte den Beamten im erleuchteten Pavillon daneben, der gerade ein Butterbrot aß – er machte einen langen Hals und passte auf, dass ich keinen Bus klaute.
„Entschuldigen Sie, ich möchte Ihnen nur alles Gute wünschen!“ sagte ich zum Schneemann. Er seufzte tief und ihm fiel ein Brocken aus der Taille. „Das ist nett von Ihnen, danke. Ja, kaum ist man da, schon schmilzt man weg. Aber man hat Spaß mit mir gehabt und ich war für eine Stunde wirklich richtig glücklich.“
„Wann sind Sie denn gebaut worden?“
„Ich denke mal so um fünf Uhr am Nachmittag, Es war noch hell.“
Ich dachte darüber nach und sagte: „Es gibt Sie vielleicht noch fünf oder sechs Stunden. Das bedeutet, Ihr Leben betrug zum Schluss ungefähr dreizehn Stunden. Wenn Sie davon eine Stunde lang wirklich richtig glücklich waren, dann ist das viel!“
„Ach ja?“
„Ja, unbedingt. Es gibt Lebewesen, die werden zwischen siebzig und achtzig Jahre alt, und am Ende ihres Lebens glauben sie, nie richtig glücklich gewesen zu sein.“
Dann erzählte ich ihm noch vom Schneemann Olaf, der aus dem Film mit der Eiskönigin. Das gefiel ihm. Er war nur traurig, dass er keinen Namen hatte.
„Aber den haben Sie doch! Sie heißen Fjodor!“, behauptete ich.
Er knirschte leise. „Fjodor? Ach! Was für ein schöner Name …“
Wir wünschten uns eine gute Nacht und ich verließ das Gelände. Zum Schluss winkte ich dem Beamten im Pavillon zu und er winkte zurück.
Glücksfaktor: Gebt euren Schneemännern Namen!