Schminken – oder nicht schminken? Das ist hier die Frage …


Menschen sind verschieden und haben unterschiedliche Stadtpunkte oder vielmehr Gesichtspunkte.

Seit einer Weile stoße ich ab und zu auf den Artikel einer Journalistin, die sich nicht mehr schminkt, weil sie erkannt hat, dass sie es nicht (wie sie früher glaubte), für sich selbst tut. Sondern für andere.

Gefallssucht ist, aus christlicher Sicht betrachtet, genauso schlimm wie Eitelkeit. Und eins muss doch endlich mal gesagt werden: Äußerlichkeiten sind völlig egal. Es kommt allein auf innere Werte an! Das wird jeder Werbefachmann sofort bestätigen.

Diese Journalistin erklärt, sie habe inzwischen mal ein rotes und mal ein bleiches Gesicht und mal viele Pickelchen, die sie nicht mehr kaschiert. Da müssen die anderen durch. Und das fühlt sich, sagt sie, tausendmal besser an.

Das Ganze tippt natürlich auch ans politische Bewusstsein. Warum müssen Frauen sich schminken und Männer müssen nicht und überhaupt?

Menschen sind verschieden.

Ich kenne einen (recht attraktiven) jungen Mann, dem seit seiner Kindheit ein halber Schneidezahn fehlt. Ihn scheint es nicht zu stören oder bei der Nahrungsaufnahme zu behindern, deshalb hat er es so gelassen. Es sorgt immerhin für einen, sagen wir: Überraschungseffekt, wenn er lächelt. Deshalb mag ich ihn nicht weniger gern. Ich frage mich, was die besagte Autorin tun würde, falls ihr zufällig ein halber Zahn abhanden käme. 

Menschen sind …

Und dann hab ich gestaunt über das Video eines Mädchens, das tatsächlich einen Chirurgen auftrieb, der ihr mehrere Rippen entfernte. Dadurch war sie in der Lage, einem zu Melonengröße aufgepumpten Busen und einem zu rosa Radiergummis aufgespritzten Mund eine fadendünne Taille hinzuzufügen.

Menschen …

Menschen neigen dazu, zu verbessern und zu verschönern, wie auch immer sie das auffassen. Nicht nur, indem sie überflüssige Bilder an Wände hängen und überflüssige Blumen in Vasen stellen. Sondern auch, indem sie sich selber tätowieren oder Gegenstände in ihre Ohren, Lippen oder Nasen montieren oder sich bemalen. Das machen sie seit Jahrtausenden so. Übrigens nicht nur die Weibchen – aber die  besonders.

Ich mag Verschönerungen, ganz ungeachtet irgendwelcher Notwendigkeiten. Ich entdecke überall  Einzelheiten, dafür kann ich nichts, das ist angeboren. Ich weiß nach Sekunden, was jemand für eine Augenfarbe hat, was für Fingernägel, ob seine Ohren symetrisch sind oder ob er Spinatreste zwischen den Zähnen beherbergt. Wenn ich etwas schief liegen oder hängen sehe, juckt es mich in den Fingern, es gerade zu rücken. (Ich hab im Lauf meines Lebens gelernt, diesen Trieb zu zügeln.) Ich bin mit der Eigenschaft geschlagen, Schmutz zu sehen, Flecken und Spinnweben. Das ist sehr unpraktisch, weil es ständig die Entscheidung verlangt, so was zu entfernen oder zu ertragen. Optisches kann mir nicht egal sein. Das habe ich von meiner Mutter geerbt.

Ich schminke mich selbst leidenschaftlich gern. Es hat etwas Schöpferisches. Ich male ja auch gern. Die Herausforderung ist, nicht angemalt auszusehen.

Ich denke nicht besonders politisch. Stattdessen glaube ich an Reinkarnation und bin überzeugt davon, mich überdurchschnittlich oft als Mann durchs Leben geboxt zu haben. Daraus ergibt sich, dass es mir einen Heidenspaß macht, endlich Frau zu sein. Statt, wie es sich gehört, die Frauenrolle kritisch abzutasten, genieße ich das Weibsein so hemmungslos wie ein Transvestit. Den dürfte Emanzipation wenig interessieren, wenn er zwei Paar künstliche Wimpern anklebt oder in Seidenstrümpfe schlüpft.

Als ich elf war, schenkte mir meine Mutter ein Fläschchen mit Rizinusöl und eine kleine Bürste für die Wimpern. Verschönerung war ihr ein Anliegen. Sie verkaufte Kleider in großen Modehäusern. Sie war genau das, was man früher eine gepflegte Frau nannte, und das blieb sie, bis sie mit fast hundert Jahren starb, 2014. Ungepflegte Menschen bezeichnete sie als „rücksichtslos“. Das ist ein Standpunkt.

Ihre Haare saßen immer, denn sie schlief auf Klämmerchen. Sie tuschte bis zuletzt die Wimpern und zog die Augenbrauen nach, sie ließ sich (meistens von mir) die Nägel feilen und rosa lackieren. In dem Altenheim, in dem sie zuletzt wohnte, rochen die Flure nach Krankheit und Alter und Desinfektion und Urin. Aber bereits in der Nähe ihrer Tür und erst recht in ihrem Zimmer duftete es schwach nach Blumen, nach ihrem Parfum. 

Wenn ich sie besuchte, achtete ich darauf, besonders hübsche Sachen anzuhaben, Röcke oder Kleider (meine Mutter fand, Hosen passen nicht zu Frauenfiguren), und ich war sorgfältig zurecht gemacht. Dann blickte sie mich, ohne Brille, durch ihre immer noch großen blauen Augen aufmerksam an, seufzte zufrieden und sagte: „GUT siehst du aus!“

Das letzte halbe Jahr, ihr 99zigstes, saß meine Mutter häufig in einem Rollstuhl. Doch sie saß kerzengerade, mit anmutig erhobenem Kopf. Im Altenheim gab es ungefähr dreißig alte Damen ab Mitte sechzig und drei alte Knaben – die alle drei um meine Mutter bemüht waren. Einer schusterte ihr immer seinen Nachtisch zu, was sie (meistens) mit Eleganz akzeptierte.

Für mein Empfinden also hat Schminken auch etwas mit Disziplin zu tun, mit Lebensbejahung, mit Stärke.

Glücksfaktor: dass die Menschen verschieden sind …


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