in diesem Jahr fand gestern statt, am 25. August.
Bei der Gelegenheit wurde mir bewusst, dass die Sache mit der künstlichen Intelligenz, die uns haushoch überlegen ist, nicht ganz so gefährlich sein kann. Also einstweilen jedenfalls nicht so wie beim Terminator.
Ich sollte um zehn herum im Gemeindehaus in Reinbek sein, um die anderen zu begrüßen, um elf würde der Gottesdienst in der Nathan-Söderblom-Kirche anfangen. Zwar bekam ich noch kurz vorher die Information, dass die Cyclassics, das Hamburger Radrennen für Profis und Jedermann, am Sonntag in Hamburg und drumrum tobten. Ich war jedoch ganz getrost: Ein größerer Geist als der menschliche würde mich dorthin geleiten. Mein Google-Maps-Navi wusste Bescheid. Das hatte ich kürzlich erst wieder gelesen. Google Maps, bestens informiert über jeden Stau, über jedes Hindernis, würde mich auf dem schnellstmöglichen Weg zu meinem Ziel führen. Ich sah mir am Vorabend kurz im Internet den Weg an, bekam versichert, die Fahrt sollte etwa 50 Minuten dauern – und schlief vertrauensvoll ein.
Am Sonntagmorgen fuhr ich kurz nach neun Uhr los, frisch, ausgeschlafen, voller Vorfreude. Google Maps kannte mein Ziel. Berechnete allerdings inzwischen die Fahrt auf eine Stunde und zwei Minuten. Aber das schien kaum der Rede wert.
Die ersten winzigen Zweifel keimten in mir, als die freundliche Stimme des Google-Map-Mädchens – GM – mich in Hamburgs Innenstadt beharrlich auf Wege führen wollte, die deutlich rot-weiß gesperrt aussahen. Hier sollten die Radsportler ungestört in die Kurve gehen. Wäre ich von Anfang an eine andere, ebenso mögliche Route gefahren, hätte ich nicht gut zwanzig Minuten mit dem Fahren kleidsamer Schleifen vertan. Was war mit GM los? Wieso ignorierte sie die Veranstaltung in Hamburg?
Als ich endlich die Elbbrücken hinter mir hatte, meinte ich, aufatmen zu können. Wenn ich rechtzeitig zum Gottesdienst eintraf, reichte das schließlich.

Doch dann stellte sich heraus, ich war, wie man bei uns sagt „von der Smeer in‘ Smaltpott“ geraten. Tausende von schnittigen Radlern mit insektenartigen Helmen rauschten auf der abgesperrten anderen Straßenseite an mir vorbei. GM empfahl indessen forsch, ich sollte auf den Reinbeker Redder abbiegen, obwohl der doch offensichtlich ganz dem Radsport gehörte. Ich konnte nicht. Ich durfte nicht. Ich kurbelte und drehte und wendete meine kleine Berbel und war, alles in allem, dankbar, dass ein Smart so eine kurze Nase und so einen flachen Po besitzt.
GM kommandierte mich mit leichter Ungeduld um den nächsten Block und verlangte erneut, ich sollte nun auf den Reinbeker Redder fahren. Sie wusste offenbar genau, wo die Nathan-Söderblom-Kirche lag, hatte jedoch keine Ahnung von Cyclassics.
Und als sie mich zum siebten Mal auf den Reinbeker Redder losjagte, da wurde mir klar, dass es mit ihrer überlegenen künstlichen Intelligenz nicht so arg sein konnte wie vermutet. Jeder Idiot hätte inzwischen begreifen müssen, dass an diesem Sonntag für Autofahrer ein Fluch auf dieser Straße lag und dass es sich empfahl, nach anderen Möglichkeiten zu suchen.
So verging der größere Teil meines reifen Lebens, das ich im Grunde anders zu gestalten gehofft hatte. Auf all meinen Umwegen begegnete ich langsam und unsicher herumrollenden Autos, in denen Fahrer mit ratlosen Gesichtern hockten, sowie ab und zu einem verirrten Radsportler wie eine Wespe, die vom Schwarm abgekommen ist.
Aber dann glaubte ich, Rettung zu erkennen! Da stand ein Polizeiauto vor einer der rotweißen Sperren zum Reinbeker Redder. Ich parkte die Berbel hochkant, sprang hinaus und zum Freund und Helfer, der sinnend die vorbeiflitzenden Horden von Radlern betrachtete. Ich fragte ihn nach der Kirche, die in der Berliner Straße lag. Der Polizist, ganz im Gegensatz zu GM, wusste zwar offenbar alles über die Cyclassics, hatte jedoch noch nie von der Nathan-Söderblom-Kirche gehört. „Berliner Straße – wo? In Hamburg?“
„Nein – hier in Reinbek!“, sagte ich. Und erfuhr, ich war überhaupt noch nicht in Reinbek! Dorthin wäre ich über den Reinbeker Redder gelangt, falls er befahrbar wäre. Das ginge wieder so ab sechzehn Uhr dreißig. Ich möge bitte da vorn vor der Absperrung wenden. Und wie ich ansonsten nach Reinbek kommen könnte, wüsste er auch nicht.
Inzwischen war das entstanden, was positiv denkende Menschen einen warmen Spätsommertag nennen. Mir wurde recht warm. Ich hatte nichts zu trinken mitgenommen, im Vertrauen auf GM und den Kaffee, der im Gemeindehaus in der Berliner Straße auf mich wartete. Ich ignorierte inzwischen die Stimme von GM, die auf dem Reinbeker Redder beharrte und mich um jeden erdenklichen Block auf ihn zujagen wollte. Ich begann sogar, sie zu beschimpfen und zu fragen, ob sie eigentlich noch nicht kapiert hätte, was hier lief. Ich fuhr bewusst in die entgegengesetzte Richtung zu der empfohlenen und hielt irgendwann an einem schattigen Plätzchen. Nun war es nach elf Uhr, der Gottesdienst hatte also angefangen. Inzwischen hasste ich alle Navis, plante, meine Benzinrechnung an Google Maps zu schicken und empfand heftigen Widerwillen gegen den Reinbeker Redder.
Ich besitze durchaus eine Straßenkarte von Hamburg und Umgebung. Ich hatte sie sogar bei mir. Doch weil ich nicht wusste, wo ich mich inzwischen eigentlich befand, konnte ich den über mir auf dem Schild stehenden Straßennamen nicht orten. Es gab ihn weder im Bezirk Hamburg, noch in Reinbek.
Und dann schickte Gott mir einen Engel. Ein Herr in den besten Jahren mit hübschen schwarzen Augen und lockigem Zopf auf dem Rücken. (Gott weiß, was mir gefällt.) Zwar war er auf einem Rad unterwegs, und ich hatte gerade begonnen, eine kleine Aversion gegen Fahrräder zu entwickeln. Doch ich unterbreitete ihm tapfer meine Problematik. Er überlegte eine Weile, teilte mir mit, dass ich mich inzwischen in Bergedorf befand und riet mir, über Wentorf, also von Südosten her, auf Reinbek loszufahren. Nebenbei handelte es sich bei dem Mann um einen türkischstämmigen Mitbürger, doch er wusste besser Bescheid als der Polizist. Er erklärte klar und verständlich, wie ich an mein Ziel gelangte, wünschte noch einen schönen Sonntag und radelte lächelnd seiner Wege.
Als ich anfuhr, wollte mir GM ihre Ansicht zu meiner Route mitteilen, doch ich schnauzte sie an, sie möge die Klappe halten. Zumindest, bis wir Reinbek erreicht hätten. Da könnte sie sich nochmal hervortun, indem sie die Kirche fand.
Ich verpasste zwar die Predigt, kam jedoch eben noch passend zum Abendmahl. Und es wurde später ein wunderschöner, entspannter Nachmittag mit meinen Prädikantengeschwistern.
Aber ich verlor an diesem Sonntag meinen Kinderglauben an die unbegrenzten Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz …
Glücksfaktor: Die ganz altmodische Art, ein menschliches Wesen um Rat zu fragen.