Vor unserem Haus stehen zwei Bäume …


die beobachte ich jetzt seit drei Jahren. Unsere Straße ist eine kleine Allee, im Sommer angenehm schattig, im Herbst bildschön durch das goldene Laub. Alle Bäume bekommen und verlieren fast gleichzeitig ihre Blätter – bis auf zwei, beide ausgerechnet vor unserer Haustür.

Der eine zeigt eher als alle anderen in der Straße erst dicke Knospenknubbel und dann gelbgrüne Blätter.

Der andere bleibt länger als alle anderen kahl und dunkel und winterlich.

Ich glaube, sie gehen sich gegenseitig entsetzlich auf die Nerven.

Ich kann hören, wie der eine zwitschert: „Brüder, es ist Frühling! Spürt doch nur die Sonne, diese Lebenskraft! Ach, ich tanze mit meinen Zweigen im sanften Wind, meine Blätter entrollen sich, meine Rinde dehnt sich und freut sich über …“

Und der andere grummelt: „Geht das etwas leiser? Hast du sie noch alle? Sanfter Wind? Es herrscht eine Schweinekälte! Jeder, der seine Blätter riskiert, kann sie beim Nachtfrost schädigen. Kerl, wir haben noch nicht mal Mai! Der nächste Schneesturm wird wahrscheinlich jederzeit über uns herfallen. Von den Eisheiligen mal ganz zu schweigen. Wer auf Sicherheit baut, der entrollt seine Blätter nicht, bevor die Kalte Sophie durch ist …“

Der rechte Baum: „Wie du immer alles schlechtreden musst! Wie du den Schatten deiner Ängste und deiner ewigen Bedenken immer auf alle anderen schmeißen musst! Du mit deiner ewigen Sicherheit! Wieso trägst du eigentlich keinen Helm? Es könnte dir ein Flugzeug auf die Krone fallen …“

Der linke Baum: „DAS magst du gern laut  sagen. Wenn ich einen kriegen könnte, würde ich ihn tragen. Man kann nicht vorsichtig genug sein und man muss jederzeit mit dem Schlimmsten rechnen, dann wird man jedenfalls nicht überrumpelt. Jetzt lass mich in Ruhe, ich bin noch im Winterschlaf.“

Dann schweigen sie beide. Der eine steht bald ganz in Grün, der andere bleibt kahl bis Mitte Mai. Und leider haben sie keine Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen – außer, gefällt zu werden …

Glücksfaktor: Beweglichkeit.

 


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