Wachstum schmerzt


Vor langer Zeit, als ich Aquarien besaß, wohnte bei mir mal eine rosa Garnele. Sie war nicht rosa, weil angebraten, sondern von Natur aus, hatte zarte lange Fühler wie ein Schmetterling und ausdrucksvolle schwarze Knopfaugen. Ich taufte sie Natalie und ich erinnere mich gut an den Schrecken, den ich bekam, als sie gerade einen Tag bei mir war und bereits tot am Boden lag! Ich angelte das arme Tier heraus – und begriff, dass es sich hier um eine leere Hülle handelte. Die wirkliche Natalie saß etwas versteckt im Gebüsch. Sehr zu Recht, denn gleich nach der Häutung ist eine Garnele noch nicht wieder gepanzert, sondern butterweich, gewissermaßen zum Anbeißen. Und dass sie lecker ist, weiß so ziemlich jeder. Wahrscheinlich auch die Garnele selbst.

Übrigens wechselt sie nicht einfach mal so nebenbei den Anzug. Eine Häutung ist keineswegs ungefährlich, im Gegenteil. Abgesehen davon, dass Fressfeinde es wegen des fehlenden Panzerns leicht haben: Die Garnele ist in diesem Zustand geschwächt und angestrengt. Vielleicht tut der Vorgang weh – obwohl sich ja immer noch viele Menschen durchaus nicht vorstellen können, dass schweigsame Lebewesen Schmerz empfinden. Auf jeden Fall ist es Stress – und oft genug wird eine spontane Häutung durch Stress ausgelöst. In Natalies Fall, weil sie neu zu mir kam und diesen Schock und die ungewohnten neuen Wasserwerte zu verkraften hatte.

Man könnte sich fragen, wieso Natalie sich noch zusätzlich eine Häutung antun musste, wenn das doch gefährlich und schmerzlich war? Aber genau so gut könnte man sich fragen, wieso wir Menschen uns immer noch vermehren, notfalls unter sehr widrigen Umständen, obwohl auch das schmerzhaft und nicht ungefährlich ist.

Bei einer Garnele kann die Häutung schief gehen, etwa, indem der alte Panzer feststeckt oder sie sich nicht daraus befreien kann und erstickt. Manchmal ist die neue Hülle auch defekt, irgendwie verwachsen oder es fehlt ein Teil. Je älter eine Garnele wird, desto komplizierter gestaltet sich die Häutung. Nicht selten stirbt sie sogar daran.

Bakterien bekommen weder Eier noch Babys – um sich zu vermehren, teilen sie sich. Nun gehen vermutlich wieder die meisten Menschen davon aus, dass eine Bakterie keinen Schmerz empfindet. In diesem Fall nicht, weil sie so stumm ist, sondern eher, weil sie so klein ist. Kann ja kein Bewusstsein haben. (Das wäre die Vermenschlichung der Bakterie!) Ich behaupte mal, dass es eventuell kein Vergnügen ist, plötzlich die Hälfte seiner selbst von sich weg zu spalten.

Lebewesen tun sich dererlei an aus Gründen der Vermehrung – oder um zu wachsen. Die Garnele wächst (und häutet sich), solange sie lebt.

Wir sollten uns, wenn auch unser körperliches Wachstum relativ früh abgeschlossen ist, seelisch, geistig, charakterlich weiterentwickeln, solange wir leben. Das eine scheint in den meisten Fällen ebenso schmerzhaft zu sein wie das andere.

Ich erinnere mich noch, dass ich als Kind – vor allem in der Vorschulzeit – manchmal nachts weinend aufwachte, weil in meinen Beinen ein Schmerz saß, ein scheußliches Ziehen. Mein Vater massierte vorsichtig meine Beine, las etwas vor, um mich abzulenken, gab mir auch mal einen Teelöffel Cognac (ein Heilmittel, von dem er sehr viel hielt, obwohl anderen Erwachsenen, wenn sie es erlebten, die Haare zu Berge standen) und meinte bekümmert: „Du wächst, meine Kleine. Das tut weh. Das muss man aushalten. Oder klein bleiben.“

Klein bleiben, nicht erwachsen werden, wollten beispielsweise Peter Pan oder Pippi Langstrumpf. Was mich anging, ich wollte nichts auf der Welt lieber als so schnell wie möglich erwachsen werden. Möglicherweise deshalb wuchs ich in rasender Geschwindigkeit, bis ich dreizehn Jahre alt war. Eine schmerzliche Zeit lang war ich eine der Größten in der Klasse, unübersehbar, ein dünner Leuchtturm, länger als der Biologielehrer. Doch da mein körperliches Wachstumssoll damit erfüllt war, wuchsen mir die anderen nach und nach über den Kopf. Gottseidank. Zum Schluss blieb ich, zu meiner grenzenlosen Erleichterung, mittelgroß, eher klein.

Die Zeit meiner unkleidsamen Länge empfand ich als überaus schmerzhaft – und bin innerlich daran gewachsen. Es hat mich einen Teil meiner Persönlichkeit gekostet und einen neuen hinzugefügt. Eine Häutung.

Für unsere Gesellschaft im 21. Jahrhundert scheint Schmerzfreiheit oder Symptomlosigkeit fast ein Grundrecht zu sein. Sobald es irgendwo ziept – ab zum Arzt! Der kann was dagegen tun. Genauso ist das mit Gemütsverknotungen. Das muss weg. Therapie, Ratgeberbuch, YouTube-Video, beste Freundin, eventuell sogar Medikamente. Wir setzen uns dem nicht mehr aus. Wachsen kann man inzwischen auch ohne Aua. Wenn wir uns wie Garnelen materiell häuten müssten, um weiterzuleben, dann gäbe es eine schmerzfreie Art, vermutlich im Dämmerschlaf mit ein bisschen Reha.

Glücksfaktor: eine weitere Sicht der Dinge.


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