Was fordert das Gehirn heraus? Neue Filme und Sanitäre Anlagen


Das ist eine Kolumne von 2014 oder so, die in KulturPort stand:

Gehirntraining

Kürzlich lauschte ich ungern dem Gespräch zweier älterer Herren, die sich einig waren: die Gesellschaft verblödet immer mehr, technische Geräte jeder Art fördern die Denkfaulheit, alles wird in einem solchen Ausmaß vorgekaut, dass die Gehirnmuskeln der zivilisierten Gesellschaft ausleiern wie alte Hosenträger.
Dieser betrüblichen Auffassung möchte ich entgegensetzen, dass es durchaus auch in unserer dekadenten Zivilisation noch einige Herausforderungen für’s Oberstübchen gibt, rein kulturell gesehen, meine ich.

Da wäre zunächst mal die Filmkunst. Die hat sich im Lauf des vergangenen Jahrhunderts, was den Faktor ‚Verstand bemühen’ angeht, sehr verändert.


Am Anfang, zur Stummfilmzeit, blieb nichts im Unklaren. Man konnte genießen ohne zu grübeln.
Zuerst war die Darstellerin zu sehen, die wild mit den Augen kullerte und die Hand auf’s Herz presste. Dann stoppte die Handlung und auf einem Schild stand zu lesen:

„Oh! Wie wird mir? Ich ertrag’ es fürder nicht!“

Das dachten wir uns zwar schon, aber es war angenehm, es bestätigt zu bekommen. Selbst verwirrende und anspruchsvolle Filmkunstwerke wie ‚Metropolis’ oder ‚Alraune’ nahmen den Zuschauer auf diese Art bei der Hand.
Nachdem der Ton hinzukam, fehlten zwar die meisten Erläuterungsschilder, doch immer noch war es das Anliegen der Produzenten, den Zuschauer nie im Unklaren zu lassen. Es gab da eine Reihe unausgesprochener Vereinbarungen zwischen Macher und Verbraucher. Zum Beispiel konnte man in vielen Fällen davon ausgehen, dass die blonde Heldin die Gute war, im Gegensatz zur Brünetten, und dass der edle Held auf einem Schimmel saß, während der zweifelhafte den Rappen ritt.
Böse Frauen, solche, die wussten, was sie wollten und die nicht zur bedingungslosen Selbstaufopferung neigten, rauchten und lackierten sich die Nägel.

Wurde ein Traum gezeigt, eine Halluzination oder eine Erinnerung, dann verschwamm das Bild erst mal, um zu demonstrieren: hier verlassen wir die Realität und die kontinuierliche Zeit. (Weshalb der Vorgang auch ‚Rückblende’ genannt wurde. Normalerweise fing nämlich ein Film vorne an und endete hinten, mit dem Happyend oder der Katastrophe.) Selbst Hitchcock benutzte solche technischen Ausrufezeichen, Suspence hin oder her, er wollte nicht, dass der Zuschauer den Faden verlor.

Ein weiteres Hilfsmittel, auf das man sich blind verlassen konnte, war der musikalische Hintergrund. Die allermeisten Filme in den dreißiger und vierziger Jahre wurden in erklärenden Sinfonien geradezu ersäuft, die Protagonisten konnten keinen Schritt tun und keine Augenbraue hochziehen, ohne dass Bratschen und Schalmeien verdeutlichten, was in ihrer Brust tobte, von neckisch-gehüpften Tönen, bevor sie eine Schelmerei begingen, bis zu tiefdunklem, bedrohlichen Gegrolle, wenn sie den Dolch wetzten oder die Tochter des armen Poeten belästigten.

Dazu kam der damals unendlich strenge Kodex der so genannten „Freiwilligen Selbstkontrolle“. Dem entsprechend lohnten sich Verbrechen nie im Leben. Selbst, falls der Böse im Lauf des Films gebessert wurde und aufrichtig bereute, musste ihm zum Schluss unabdingbar was Schweres auf den Kopf fallen oder dergleichen, denn wir alle hatten schließlich beobachtet, dass er mal in Sünde gefallen war und mochte Gott auch vergeben: die FSK nie.

Noch kurz vor dem zweiten Weltkrieg, als ‚Vom Winde verweht’ gedreht wurde, gab es ein riesiges Gerangel darum, ob Clark Gable am Ende wirklich sagen dürfte: „I don’t give a damn…“ Die Floskel drückt in salopper, aber gebräuchlicher Form aus, es rutsche ihm am Hintersteven vorbei, was aus seiner Frau würde. Es ging der Zensur auch gar nicht um diesen grausamen Tatbestand, sondern um das schlimme Wort ‚Verdammt’.

Der Krieg änderte viel im Bewusstsein und auch in der Filmkultur. Plötzlich war Gutes nicht mehr so zweifelsfrei gut wie früher und Böses nicht mehr klar abgegrenzt böse. Humphrey Bogart, bis ‚Casablanca’ charakterloser Gangster, wurde zum Idealtyp des gebrochenen Helden, nicht wirklich schlecht, aber keineswegs herzensrein, oft boshaft und zynisch, beim geringsten Anzeichen von Gefahr in Notwehr mordend. Ihm fiel trotzdem am Ende des Films nichts Schweres auf den Kopf.
Die Reihe dieser ‚schwarzen Filme’ wurde durch häufig etwas verwirrende Vor- und Rückblenden geprägt, nicht mehr so leicht zu erkennen wie früher.

Immer noch jedoch fing ein Film meistens vorne an und endete hinten, eventuelle Zeitsprünge waren gekennzeichnet und jeder Szenenwechsel erhielt ein kleines Türchen: sprang die Handlung zum Doktor, dann wurde vorher einmal der Backsteinbau des Krankenhauses gezeigt. Führte sie uns zum Fischermädchen, war zuvor das besinnlich rauschende Meer zu sehen. Und wenn wir erlebten, wie der Fabrikbesitzer seine Frau erdrosselte, bekamen wir erst mal schnell dessen Villa zu sehen, zuverlässig. Auch, wenn man sich kurzfristig mit dem Sitznachbarn beschäftigte oder sich verstreutes Popcorn vom Mantel sammeln musste, blieb man im Bilde und wusste immer, wo man – im Film – gerade war.

Doch später ließen die meisten Filmemacher immer mehr die Hand des Zuschauers los. Ingmar Bergmann schockierte ganz fürchterlich, die Nouvelle Vague erschütterte ebenfalls und auch der Junge Deutsche Film, von Fassbinder bis Schlöndorff, verweigerte die alten Sicherheitsregeln. Je nach Gemütslage wanderte der Zuschauer erheitert, aufgewühlt oder ratlos (wie die Artisten in der Zirkuskuppel) nach Hause.

Nun war das ja damals nur ein Teil des Angebots; wer nervöses Gehirnzucken vermeiden wollte, der schaute sich halt keine künstlerischen Filme an. Im Italo-Western beispielsweise stimmte zwar moralisch auch nichts mehr, die Guten waren ungefähr so schlitzohrig wie die Bösen, aber sie sahen meist besser aus und man begriff immer noch, wie alles sich entwickelte und warum.

Seitdem hat sich viel verschoben und verwoben. Unmerklich, doch unaufhaltsam verläuft immer weniger auf der Leinwand oder dem Bildschirm nach irgendwelchen sicheren, nachvollziehbaren Regeln. Filme, von denen man erwartet, dass sie entspannen, spannen oder unterhalten, tun vor allem eins: sie überraschen ganz ungemein.
Das gilt sogar für Werbespots. Verstehen Sie jeden?

Vor allem ältere Leute, jene, die mit den ursprünglichen festen Gesetzen für Gut und Böse, Erlaubt und Verboten ins Kino gehen lernten, haben oft größere Probleme:
„Was macht der da und wer ist das überhaupt – ? Wo sind die gerade? Und warum schlägt der so auf den ein?“
Die Standartantwort könnte meist lauten: „Weiß ich auch nicht. Warte mal ab, irgendwann ergibt es sich wahrscheinlich.“
Das gilt für die meisten Filme wie für Fernsehspiele, sogar für den guten alten Tatort, in dem ja nicht mehr vorrangig der Mörder gesucht, sondern eher das problematische Sozialleben der Kommissare beleuchtet wird. (Was absolut kein Vorwurf sein soll; mir gefällt das.)

Drehbuchautoren und Regisseure trauen es ihrem Publikum inzwischen einfach zu, auch und gerade unter erschwerten Bedingungen zusammen zu dröseln, worum es geht. Bei Menschen unter 30 klappt das übrigens meistens. Man denkt, sie haben nichts mitbekommen, weil sie während des Films zwei SMS verschickten, aber sie können meist phantastisch erklären, ‚was der da macht und warum‘, weil sie mit dieser Art der Dramaturgie aufgewachsen sind.
Das Muster seit zehn oder fünfzehn Jahren verläuft so: zuerst wird eine ganze Reihe aufregender oder sonderbarer Ereignisse mit verschiedenen Personen gezeigt. In welcher Beziehung sie zueinander stehen, gilt es selbst aufzudecken. In der Zeit wird ohne Warnung vor- und zurückgesprungen, mit etwas Konzentration und Kombinationsgabe sollte es möglich sein, das Muster und den Sinn dahinter zu entschlüsseln. Besonderes Glück hat man, wenn der Filmschaffende intelligent ist und selbst weiß, was er da sagen will. Dann ist der Zusammenhang sogar noch leichter zu erkennen.
Überall ist intensives Mitdenken nötig.

Irgendwann, meist nach etwa 15 bis 20 Minuten, klärt sich einiges.
Manchmal auch nicht. Dann ist der Film wie ein Krach in der Nachbarwohnung eines soliden Altbaus: Gebrüll und Türenknallen, man versteht etwa jedes sechste Wort und hat zum Schluss den Eindruck, es könnte sich um Keramik und Mausefallen gedreht haben. Oder auch nicht.
Es muss eben nicht alles immer gleich so deutlich gesagt werden, das ist völlig veraltet.
Wenn das nicht hilft, unsere verwöhnten und ausgeleierten Gehirnmuskeln zu straffen!

Und es gibt noch eine zweite Errungenschaft der Kultur, die wach hält und zum Denken zwingt.
Das sind die Wasserhähne in öffentlichen Toiletten sowie in erweiterter Form auch die dazugehörigen Seifenspender und die Handtuchautomaten.
Genau wie die Filmkunst waren diese Geräte in der guten alten Zeit berechenbar. Ein Wasserhahn wurde halt aufgedreht, nach dem Uhrzeigersinn, unter Umständen lag sogar ein Stückchen rissiger Seife da und das Stoffhandtuch konnte man mit einiger Körperkraft eventuell aus dem Blechkasten zerren, um ein sauberes Stück zu erwischen.
Dies alles war natürlich sehr unhygienisch und langweilig.

Zunächst entstanden, um das Schmuddelhandtuch zu ersetzen, Gebläsemaschinen, die einem Rheuma in die nassen Hände pusteten. Schließlich entdeckte Irgendwer, dass diese Gebläse wahre Bakterienschleudern darstellten. Gleichzeitig war die Technik soweit, uns viele ungeahnte Möglichkeiten der Handreinigung zu liefern.
Noch hat kein Monopolist das alles aufgekauft, was bedeutet: in jedem Klo wird anders gewaschen. Mal spritzt das Wasser los, sobald man vor das Becken tritt; hin und wieder gibt es unter dem Becken einen Knopf zum drauf Treten; manchmal muss man dem Wasserhahn vor den Augen herumfuchteln, manchmal ihm auf den Kopf drücken oder eine Hand segnend darüber halten. Ähnlich ist es mit den Seifenspendern. Auch Papierhandtücher kommen häufig herausgefaucht, nachdem man grüßend vor ihnen herumgewedelt hat.

Neulich amüsierte ich mich mit einer wildfremden Frau eine halbe Ewigkeit damit, herauszufinden, wie in diesem Ort der Reinigung und Stille denn nun die Technik funktionierte. Den Trick des Seifenspenders knackten wir gemeinsam, der Wasserhahn verweigerte sich uns ebenso wie der Handtuchapparat (vielleicht war er einfach leer), so dass wir am Ende unsere eingeseiften Hände an eigenen Papiertaschentüchern abrieben.
Immerhin war es sehr erheiternd. Und völlig kostenloser Denksport …


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert