Was ist eigentlich im Jahr 2021 ein Nazi?


(Nicht zu verwechseln mit Narzisst, obwohl ebenfalls böse.)

Der Löwe fährt ja ab und zu gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln, weil, wie er sagt: Da kann er Menschen beobachten. Neulich konnte er beobachten, wie ein junger Mann mit ausgeprägtem schwarzen Bart in der Bus-Mitte schwankte und in seiner Muttersprache ins Handy schimpfte, überdurchschnittlich laut. Eine ältere Dame, die versuchte, in einem Buch zu lesen, provozierte den jungen Mann, indem sie halblaut bemerkte: „Könnten Sie nicht bitte etwas leiser sprechen?“

Das beleidigte ihn stark. Erst erklärte er ins Telefon, was ihm gerade zugestoßen war, dann schrie die Gestörte an: „Du Nazi-Tante, was willst du?! Willst du Ärger, ja? Willst du Ärger?“

An dieser Stelle stand  der Löwe auf, schob sein breites Kreuz zwischen den Telefonierer und die Gestörte und sagte zu dem jungen Mann: „Wieso regst du dich so auf? Sie hat doch ganz nett und ruhig mit dir gesprochen?“

Nun war er auch ein Nazi, und zwar ein dreckiger.

In diesem Moment hielt der Busfahrer an und verlangte, der aufgeregte junge Mann möge auf der Stelle aussteigen, andernfalls käme die Polizei.

Der Aufgeregte blieb am Straßenrand stehen und brüllte dem Bus hinterher: „Ihr seid alle Nazis in diesem Land! Ihr Scheiß-Nazis!“

Was ich wissen möchte, ist: Steht der Ausdruck eigentlich noch für das, was er mal war, eine politische Bezeichnung mit Beziehung zu einer rechtsradikalen Diktatur – oder handelt es sich inzwischen einfach um ein beliebiges Schimpfwort?

Meine Eltern passten nicht besonders gut zusammen, ich weiß, wovon ich rede. Was sie jedoch vom Anfang ihrer Bekanntschaft (1938) an gemeinsam hatten und was sie stark miteinander verband, war Abscheu und Hass gegen das Regime, in dem sie lebten. Mein Vater, aufmüpfiger Journalist, verbrachte einige Monate im KZ Oranienburg als ‚Staatsfeind‘. Meine Mutter besaß viele jüdische Freunde, ihre Mutter war Zigeunerin – zwar adoptiert, doch das nützte gar nichts, sie gehörte trotzdem einer ‚minderen Rasse‘ an.

Meine Mutter hat mir, als ich noch ziemlich klein war, ein Bild von dem vermittelt, was ihrer Ansicht nach einen ‚Nazi‘ ausmachte. So einer war verbohrt und engstirnig, gehorsam jedem Vorgesetzten und jeder Autorität  gegenüber und tat, was ihm befohlen wurde, ohne es in Frage zu stellen oder darüber nachzudenken. Vor allem waren Nazis ‚rechts‘, was bedeutete, sie fürchteten aufmüpfige, emanzipatorische Gesellschaftsveränderungen. Ein Untertan.

Aus dieser Perspektive fand meine Mutter die 68er-Bewegung großartig, sie liebte Hippies, Männer mit langem Haar und Kriegsdienstverweigerer. Als mein Sohn neun Jahre alt war, verlangte sie von ihm, er sollte mal Ersatzdienst leisten, wenn er ‚drankäme‘. Das war ein Streitpunkt zwischen uns. ich meinte, das müsse Arne selbst entscheiden, sie fand, das könne er gar nicht ohne entsprechende Erfahrungen. (Schließlich wurde er, aus welchem Grund auch immer, nie zum Wehrdienst aufgefordert.)

Ich dachte, sobald ich den Löwen kennenlernte, wie gut er meiner Mutter gefallen hätte. Das absolute Gegenteil von einem Nazi.

Aber interessanterweise ist er nicht nur von dem schwarzbärtigen Herrn im Bus verdächtigt worden, einer zu sein. Sondern ein alter, ein lebenslanger Freund fragte kürzlich, nachdem er seine Facebookseite gelesen hatte, ob er etwa ein Querdenker und Nazi sei?

Meine Mutter hätte niemals das eine mit dem anderen in Verbindung gebracht, ganz im Gegenteil. Da scheint sich etwas geändert zu haben. Ist man jetzt eher ein Nazi, wenn man NICHT mit dem Strom schwimmt, wenn man anderer Ansicht ist – oder zumindest andere Ansichten in Erwägung zieht als die Masse?

Glücksfaktor, meinte jedenfalls Friedrich Schiller: Gedankenfreiheit.

 

 

 

 


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