Wer glaubt schon an Weissagungen?


Ich nicht. Ich denke, man kann die Zukunft nicht vorhersagen, weil sie jeweils aus Möglichkeiten besteht – aus wahrscheinlicheren und aus unwahrscheinlicheren. Wir alle haben die Macht, sie zu ändern. Durch Taten, durch Worte, auch durch Gedanken und sogar durch Gefühle. Dass es allerdings Menschen gibt, die in der Lage sind, diese Möglichkeiten zu erspüren, das glaube ich schon. Das geschieht mir ja selbst manchmal.

Vor vielen Jahren kannte ich eine Frau, eigentlich eine Bekannte meiner Mutter, eine sonderbare ungezähmte Person mit (wie wir) Zigeunerblut. Weil wir uns kennenlernten, als ich ein Kind war, sagte ich immer Sie und Frau Reinhardt, sie nannte mich du und Schätzecken. Das sagte sie wohl zu allen, die sie gern mochte.

Ich besuchte sie das letzte Mal, als ich schwanger war, im Sommer 1979. Da litt sie schon an ihrer schweren Krankheit. Sie sagte zu mir: „Ich geh jetzt bald, und es ist gut, dass ich gehe. Pass mal auf dich auf. Wenn du die 80er überlebst, ist es ein Wunder. Wenn du die 90er erreichst – und dein Kind auch – dann kannst du dir gratulieren. Ich sah so was. Ich seh die 80er-Jahre in Flammen, Krieg, ich seh überall Atompilze. Wo soll man sich da bergen? Pass auf, Schätzecken, vor allem im Herbst 83. Da geht die Welt unter.“

Ich nahm sie zu ernst, um das als Fieberphantasie zu deuten. Andererseits glaubte ich damals schon, dass die Zukunft nie fest steht.

Frau Reinhardt starb in der Silvesternacht 1980, sie machte sich wirklich pünktlich aus dem Staube, bevor die 80er anfingen.

Ich dachte ab und zu daran, was sie mir gesagt hatte. Als im April 1986 der Unfall von Tschernobyl passierte, da meinte ich, vielleicht war es das, was sie gesehen hat. Nicht Herbst, sondern Frühling. Und nicht Atomkrieg, sondern Nuklear-Katastrophe.

Ungefähr zwanzig Jahre später las ich zum ersten Mal etwas über Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, den Mann, der im September 1983 den dritten Weltkrieg, einen Atomkrieg, verhinderte.

Als Stanislaw geboren wurde, im September 1939, gab es gerade seit einer Woche Weltkrieg, den zweiten. Wer weiß, was er als Kind davon mitbekommen hat? 44 Jahre später war er leitender Offizier der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte und arbeitete in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung, um aufzupassen, ob die Amerikaner nicht zufällig auf die Idee kamen, ohne Kriegserklärung mit Atomraketen auf die Sowjetunion zu schießen. Im Kalten Krieg konnte man nie wissen. (Ronald Reagan hatte Russland immerhin gerade in einer Ansprache das ‚Reich des Bösen‘ genannt.)

Petrow hatte Nachtdienst, als das Frühwarnsystem ausgelöst wurde und meldete, soeben sei eine Atomrakete vom US-Bundesstaat Montana aus Richtung Sowjetunion abgeschossen worden.

Was eine einzige Waffe dieser Art anrichtete, das wusste man seit Hiroshima und Nagasaki. Inzwischen jedoch, in den vergangenen fast vierzig Jahren, hatte der menschliche Erfindungsgeist daraus viel, viel mehr gemacht. Das wurde immer wieder mit Stolz erwähnt. Die Bomben, die auf Japan gefallen waren, muteten fast harmlos an im Vergleich zur Leistung der aktuellen Nuklearsprengköpfe 1983.

Die Planung für einen derartigen Fall spontaner Aggression sah vor, dass eine knappe halbe Stunde Zeit blieb, um über den Gegenschlag zu entscheiden. Nun konnte man sich fragen, wozu noch ein Gegenschlag, wenn die Hälfte der Welt sowieso nicht mehr zu retten war? Die Antwort lautete: Weil man das dem Feind nicht gönnte. Wenn der schon angefangen hatte, dann sollte er seines Sieges nicht froh werden. Und wenn schon ganz Russland dem Untergang geweiht war, warum dann nicht auch der Rest der Welt? Das bedeutete, als Nächstes würden sowjetische Atomsprengköpfe auf die westliche Welt regnen, auf Amerika und seine Verbündeten.

Petrow hätte auf der Stelle seine Vorgesetzten wecken und den Vorfall melden müssen. Er zögerte jedoch. Dieses Zögern konnte ihn den Kopf kosten, selbst – oder vielmehr besonders dann – wenn der Großteil seines Landes in kurzer Zeit nur noch aus qualmender, verseuchter Asche bestand. Er trug die Verantwortung, das war ihm wohl bewusst.

Offizier Petrow war ein nüchterner Mann mit klarem Verstand. (Jungfrau.) Er fragte sich zunächst, wieso nur eine einzige Rakete? War das nicht etwas albern in so einem Fall? Außerdem traute er dem Satellitensystem nicht recht, das litt schon manchmal an einer Fehlfunktion.

Gleich darauf meldete der Computer noch vier weitere Atomraketen im Anflug. Und wieder dachte Petrow: Was soll der Quatsch, wieso bloß fünf? Wenn die Ernst machen, dann doch wohl richtig?

Er meldete einen Fehlalarm – und dann wartete er wohl ab, ob es sich wirklich so verhielt oder ob er sich völlig verschätzt hatte.

Später stellte sich heraus, dass ein Frühwarn-Satellit durch fehlerhafte Software Spiegelungen in den Wolken beim Sonnenaufgang falsch gedeutet hatte …

Glücksfaktor: Engel, die nie schlafen. Und besonnene Menschen.

 


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